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Wenn sich bis heute nichts geändert hat – „Erinnerung eines Mädchens“ im Residenztheater
Nach den Biergärten und den Geschäften öffnen nun auch die Theater wieder zaghaft die Türen und überlegen natürlich: Was bieten wir der Stadt nach so langer Durststrecke an? Das Residenztheater traut sich mit einer Regiepremiere und einem Thema, das man getrost ‚heavy‘ nennen kann, gleich einen ordentlichen Brocken an den Start zu bringen. Kein unterhaltsames Geplänkel, um die Zuschauer*innen zu umschwärmen, sondern: Real Talk. Das jedenfalls ist der Text Erinnerung eines Mädchens von Annie Ernaux. Diese eigenen Erinnerungen veröffentlichte die französische Autorin 2016, als sie mit 76 Jahren auf ihr 17-jähriges Ich zurückblickt. In diesem Text würden sich die meisten Frauen bis heute wiederfinden. Als unerfahrenes Teenie-Mädchen die ersten sexuellen Erfahrungen:…
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Gesellschaftliche Gräueltaten im Wirtshaus des Wahnsinns – ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM im Volkstheater
Eine alltägliche Situation: Es sitzen neun Menschen im Wirtshaus und unterhalten sich. Die Themen wechseln rasch, ein jeder erzählt aus seinem Leben, teilt Gedanken und Gefühle. Doch von gemütlicher Wirtshausatmosphäre kann bei dieser Konstellation keine Rede sein. Der Horror wartet bereits vor der Tür und bricht über die Beteiligten herein wie eine Welle aus Wut, Neid und Blut. Viel Blut. Werner Schwabs „europäisches Abendmahl“ ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM ist sicher nichts für schwache Nerven. Unter der Regie von Abdullah Kenan Karaca feierte es am 20. Mai 2021 Premiere am Münchner Volkstheater. Zu Beginn geht alles recht gesittet zu. Die üblichen sieben Wirtshausgäste, eine Art Stammtischrunde, bemühen sich höflich miteinander umzugehen, sprechen Probleme des eigenen…
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Die Verbrennung auf dem Marienplatz – „Marienplatz“ aus dem Residenztheater (Kritik)
Wussten Sie, dass sich vor drei Jahren ein Mann auf dem Marienplatz in Brand gesetzt hat? Auf der Suche nach einem Thema für das Theaterstück, das zu schreiben ihn das Residenztheater im Rahmen der Welt/Bühne bat, stolpert Beniamin M. Bukowski über genau dieses Ereignis. Resultat ist das Stück „Marienplatz“, welches am Sonntagabend live aus dem Residenztheater zum Stream angeboten wird. Zwischen drei Buden, die einem Christkindlmarkt entlehnt sind, befindet sich eine kleine Drehscheibe wie auf einem Spielplatz, auf der sich diese Selbstverbrennung symbolisch immer wiederholt. Nun da das Theater geschlossen hat, soll man es wenigstes am Computer sehen können: wo der Christkindlmarkt doch ausfällt, kann man ihn wenigstens auf der Bühne…
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Eine inszenatorische Übung – „Liebe/ Eine argumentative Übung“ in den Kammerspielen (Kritik)
Mit der neuen Intendanz gibt es in den Münchner Kammerspielen noch mehr Performance, noch mehr Tanztheater als schon unter Lilienthal. Damit kommt auch „Liebe/ Eine argumentative Übung“ daher. Die Inszenierung beginnt mit der Eindrucksflut aus Text, der in einem Textband über der Kulisse abläuft, einem Soundeinspieler in englischer Sprache und Johanna Eiworth, die mit der Performance aus Bewegungsabläufen beginnt, die sich für den Großteil des Abends fortsetzen wird. Eine Geschichte über Popeye und seine Freundin Olivia wird im Text verarbeitet, sie hätten sich im Deutschkurs kennen gelernt, sie hielt sich für zu knochig für ihn und für zu alt. Zu diesem Text vollführt Eiworth ihre Bewegungen. Dehnungen, Sprünge, Schritte, Drehungen. Schon…
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„Selbstporträt mit Ahnen“ – „Herkunft“ im Volkstheater (Kritik)
Woher kommst du? Eine Frage, so unkompliziert wie auch aufwendig zu beantworten. Für unsereins mag die Antwort aus einem einzigen Wort bestehen und damit auch genügen, doch müssen wir uns bewusst machen, dass dies ein Privileg unserer Gesellschaft ist. Der Autor Saša Stanišić zum Beispiel wurde in Jugoslawien geboren, einem Land, das heute so nicht mehr existiert. In seinem Roman Herkunft beschäftigt sich der mittlerweile 42-jährige mit Erinnerungen aus seiner Jugend so wie der jüngsten Vergangenheit und versucht so, der Frage nach seiner eigenen Herkunft auf den Grund zu gehen. Das gleichnamige Theaterstück unter der Regie von Felix Hafner feierte am 22. Oktober 2020 Premiere im Münchner Volkstheater. Stanišić stammt aus Višegrad an der Drina, einer Stadt, die…
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Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten – „M(3) – Eine Stadt sucht einen Mörder“ im Marstall (Kritik)
Nach der Hörspielfassung M(1) und dem Open Air-Abend M(2) auf dem Marstallplatz, wird die Reihe nun zu Ende geführt mit M(3) – Eine Stadt sucht einen Mörder (Hässliche Furcht oder schönste Gegenwehr?). Die markanten Motive aus M(1) und M(2) tauchen in Musik (Cathy van Eck) und Text hier wieder auf. Die ursprüngliche Inspiration liegt im gleichnamigen Film aus den 1930er-Jahren. Die Schlinge um den gesuchten Mörder, die symbolische Bedrohung gegen eine ganz Stadt, zieht sich zu. Premiere am 26. September 2020 im Marstall des Residenztheaters. Wurden die Möglichkeiten auf dem Marstallplatz bei M(2) perfekt ausgenutzt, indem zum Ende ein gesamter LKW auffuhr, kann das auch vom umgestellten Marstall bei M(3) behauptet…
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Zwischen Plot, Party und Priscilla – „Priscilla – Königin der Wüste“ im Gärtnerplatztheater (Kritik)
In der neuen Spielzeit des Gärtnerplatztheaters ist auch „Priscilla – Königin der Wüste“ wieder im Programm. Bereits seit 2017 begeistert das Musical um den schrillen Roadtrip dreier Dragqueens durch Australien das Münchner Publikum. So auch am Donnerstag, 17. September 2020. Bereits nach den ersten 30 Sekunden war der Saal am Toben und das, obwohl nur ein Viertel der Kapazität besetzt ist, ob der Abstände und freien Reihen zum Infektionsschutz. Bereits seit der Premiere am Gärtnerplatztheater im Dezember 2017 werden die drei Protagonisten von Armin Kahl (Tick) Erwin Windegger (Bernadette) und Terry Alfaro (Adam) zum Besten gegeben. Mit den drei so unterschiedlichen Charakteren werden für das Publikum ganz unterschiedliche Aspekte und…
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Musik nur, wenn sie laut ist – „Gehörlosen-Hörspiel“ im Volkstheater (Kritik)
Das Münchner Volkstheater möchte mit dem Gehörlosen-Hörspiel gelebte Inklusion auf die Theaterbühne bringen. Die Anregungen hierfür findet sich in der zufälligen Bekanntschaft des Darstellers Steffen Link mit Steve Stymest, seines Zeichens Model und Fotograf, in einem Technoclub. Sie verstehen sich gut, fühlen sich zueinander hin gezogen, nutzen schließlich die Möglichkeit, das Thema Gehörlosigkeit im Volkstheater zu verhandeln. Das ist für beide Seiten ein Vorteil. Stymest kann seine Geschichte und die der Gehörlosen-Community selbst auf der Bühne performen. Das wäre sonst, so hart es klingt, nicht möglich, ist doch die Sprache elementar für etwa 99% der Inszenierungen am Theater. Darum heißt es schließlich Sprechtheater. Das Volkstheater kann sich seinerseits einer Minderheit…
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„Reich mir deine Hand“ – „Lieber nicht, Abstand!“ – „Die Zauberflöte“ im Gärtnerplatztheater (Kritik)
Das Gärtnerplatztheater eröffnet die Spielzeit mit einer Wiederaufnahme von Wolfgang Amadeus Mozarts „Die Zauberflöte“ in neuer Besetzung und mit einigen Änderungen. Allen voran fallen natürlich die, auch nach der Sommerpause geltenden, Abstandsregelungen im Zuschauerraum auf. Jede zweite Reihe ist leer, zwischen den Zuschauer*innen bleiben je zwei Sitze frei. Sogar vor den Toiletten wachen die gewissenhaften Mitarbeiter*innen des Theaters darüber, dass zu jeder Zeit nur drei Personen sich den knapp bemessenen Raum teilen. Das Regiekonzept nach Rosamunde Gilmore, erstmals 2010 aufgeführt, wurde künstlerisch im Vergleich zu 2018 kaum verändert. Die eine oder andere Anpassung zum Infektionsschutz musste dennoch vorgenommen werden. So ist das Orchester auf elf Personen inklusive Dirigent Michael Brandstätter geschrumpft.…
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Freiheit für die Kunst – „Carmen Sedlmayr“ im Hofspielhaus (Kritik)
Dass das Hofspielhaus mit seinen Möglichkeiten, zumal in jetziger Situation, keine vollwertige Oper anbieten kann, ist völlig klar. Umso klüger erscheint also die Entscheidung, aus der Oper „Carmen“ eine eigene Version, ihres Zeichens eines Komödie, zu machen. Als Autor erweist Stefan Kastner dem privat betriebenen Theater neben Staatsoper und Kammerspielen die Ehre. Ehre vor Allem, weil derselbe bei Eröffnung des Hauses vor wenigen Jahren schon den Text für die allererste Inszenierung beisteuerte. Dass Betreiberin Christiane Brammer bei der Begrüßung vor 30 ZuschauerInnen erwähnt, man erinnere sich vielleicht an diese Inszenierung und Resonanz erfährt, lässt erahnen, dass am vergangenen Donnerstag, 10. September 2020, langjährige Fans und Liebhaber des Theaters anwesend waren.…