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»Ach wär doch nie…« – »Medea« im Residenztheater (Kritik)
Es ist ein schwerer Stoff, der am Sonntag, den 23. Februar im Residenztheater Premiere feiert. Selbst in der Riege der Ungeheuerlichkeiten der griechischen Tragödie, neben Inzest, Vater-, Mutter-, Brudermord, stellt Medea eine Ausnahmeerscheinung dar. Der mit Blindheit geschlagene Ödipus, der vom Zorn gebeutelte Achill, die von Rachedurst erfüllte Elektra, der auf seinen eigenen Gesetzen festgenagelte Kreon der »Antigone«: Alle sind sie Organe des Schicksals, sind ab dem Moment, da sich – zu spät – der Schleier der Verblendung hebt, Opfer und Täter zugleich, ebenso sehr Teil wie Verursacher des Leids. Doch Medea? Die Kindsmörderin, ist sie entschuldbar? Und worauf lässt man sich ein, wenn man den Faden von Grund und…
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Die Evolution als artistisches Gesamtkunstwerk – Cirque du Soleil’s „Totem“ auf der Theresienwiese (Kritik)
Das Licht im Saal geht aus und auf der Bühne wird eine beeindruckende Konstruktion eines Holzgitters enthüllt, welches wabenartig eine Halbkugel ausformt. Von oben wird ein Darsteller an einem Seil heruntergelassen, gekleidet in einen glitzernden Ganzkörperanzug. Er scheint förmlich in der Luft zu schweben, als plötzlich weitere Darsteller in Froschkostümen auftauchen, welche so amphibisch realistisch wirken, dass man sofort in eine andere Welt abtaucht. Das Programm Totem von Cirque du Soleil feierte am 13. Februar 2020 Premiere auf der Theresienwiese. Akrobatik in luftigen Höhen, auf Rollschuhen oder auf Einrädern. Dies sind nur einige der vielen Programmpunkte, auf die man sich bei einem Besuch des Cirque du Soleil freuen kann. Und nicht…
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Junges Regietalent probiert sich aus – „Based On“ in der Studiobühne TWM (Kritik)
„Solche Dinge passieren ab und zu, zwei Menschen begegnen sich und aus unerklärlichen Gründen kreuzen sich ihre Wege nie wieder.“ Solche Abende passieren am Theater selten, aber manchmal sieht man ein Stück und ist davon ganz verzaubert. Vergangene Woche hatten die Münchner diese Gelegenheit auf jeden Fall von Donnerstag bis Samstag (6. – 8. Februar 2020) in der Studiobühne. Detailverliebt, gewitzt, durchdacht und gefühlvoll kommt die Inszenierung ‚Based On‚ daher. Eine Kollage aus Erzählungen über Liebe, Eifersucht und Leidenschaft. Klingt kitschig, ist es aber nicht. Das Stück widmet sich drei Paaren, die Erzählungen werden jedoch nicht, wie häufig in den ersten Regieversuchen der Studierenden, von Hobbyschauspielern vorgespielt. Die sechs SchauspielerInnen…
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»Wenn einem die Natur kommt« – »Woyzeck« im Residenztheater (Kritik)
Ulrich Rasche inszeniert den »Woyzeck« des derzeit am Residenztheater prominent vertretenen Georg Büchner. Die Frage nach dem Wie der Umsetzung stellt sich dabei ob des eigenwilligen und beständigen Stils des Regisseurs nicht so sehr; unklar ist im Vorfeld der Münchner Premiere am 31. Januar vielmehr, was aus dem Drama und seinem Protagonisten wird, wenn es in Ulrich Rasches Kosmos aus musikalisch unterbauter Textdeklamation und monströser Bühnenmaschinerie eingesenkt wird. Es bleibt dem Publikum verborgen, wann die bühnenweite, nach allen Seiten hin neig- schwenkbare und Scheibe, auf welcher sich das Drama ereignen soll, anfängt, sich zu drehen. Die Kreisbewegung, die allen Figuren ein unentwegtes Gegensteuern aufzwingt, die Stillstand zu einem Akt der…
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Am Rande das Wahnsinns? – „Am Wiesnrand“ im Münchner Volkstheater (Kritik)
Alle Jahre wieder verwandelt sich die Hauptstadt des Freistaates in eine 16-tätige Mottoparty. Motto: Oktoberfest! Stefanie Sargnagel war für das Münchner Volkstheater dabei. So würde die passende Anmoderation klingen, vor dem 90-minütigen Dokufilm im Video-Tagebuch-Format. Das Format ist hier allerdings das zweite von Stefanie Sargnagel verfasste Theaterstück „Am Wiesnrand“, das am 30. Januar 2020 im großen Saal uraufgeführt wurde. Nach „Ja EH! – Beisl, Bier und Bachmannpreis“ nimmt sich Sargnagel erneut der Identitätsthematik an. Was macht einen typischen Oktoberfestgänger aus? Wie stattet er sich am Besten aus? Oder sie? Die zynische Bloggerin aus Wien scheint in Österreich zum Sprachrohr einer ganzen Generation geworden zu sein. Ein Sprachrohr, das sich selbst nicht ganz…
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Ausdrucksstark und schwer greifbar – „Im Dickicht der Städte“ in den Kammerspielen (Kritik)
Bertolt Brecht war ein Idealist, der wollte, dass die Zuschauer aus seinen Stücken geläutert heraus gehen. Er wollte aufrütteln und zum Nachdenken zwingen. Er selbst wiederum dachte über Themen wie die Großstadt und ihren Einfluss auf den Menschen nach. Ein Thema, das aktueller nicht sein könnte, geht es doch für Zuagroaste häufig nicht nur darum, ob sie Wohnung und Arbeit gefunden haben, sondern ob sie den Vibe einer Stadt, eines Viertels verstehen und sich an den Rhythmus der Stadt anpassten können. Die zentralste Frage, die über Brechts „Im Dickicht der Städte“ stehen könnte: Was kann eine Stadt, eine Epoche Menschen antun? Wie weit würde man selbst gehen, für seine Überzeugungen…
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Getrieben und gejagt – „Auf einem einzigen Blatt Papier“ in der Studiobühne (Kritik)
Bundespräsident Steinmeier weilte dieser Tage in Jerusalem zum World Holocaust Forum, um über die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel zu sprechen, über Neuanfang und einen gemeinsamen Weg. Auch die Werkstattinszenierung von ‚Auf einem einzigen Blatt Papier‘ in der Studiobühne TWM hat Neuanfänge und gemeinsame Wege zum Thema. Vor Allem aber spielt das Stück in Israel. Diese terminliche Übereinstimmung ist natürlich Zufall, aber dennoch sehr passend. Das Bühnenbild, von Regisseurin Magdalena Heffner entworfen, zeigt silberne Folien und von der Decke herabhängene Spiegel, die sich an ihren Fäden unaufhörlich um sich selbst drehen. Damit versinnbildlichen sie das Dilemma von Protagonist Yonathan, oder Yona oder Yossi, er scheint selbst nicht genau zu wissen, wie…
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„Ich kann sie doch nicht heiraten“ – „Der starke Stamm“ im Residenztheater (Kritik)
Knapp 70 Jahre ist es her, dass Marieluise Fleißers „Der starke Stamm“ Premiere an den Münchner Kammerspielen feierte und dabei, mit Bertolt Brechts Hilfe, die Rückkehr ihres Materials auf die Bühne begründete. Als „Volksstück“ betitelt sie ihre schwarzhumorige Tragikomödie voller Spitzen, teilweise wie ein Bauerntheater, aber dabei doch im Text so viel klüger. Nun kommt das Werk auf die andere Straßenseite, Jahrzehnte später in einer völlig anderen Zeit, aber im Originaltext und ohne große Anstalten, eine Modernisierung vorzunehmen. Die Premiere am Residenztheater fand am 23. Januar 2020 statt. Spätestens nun, bei der neunten Premiere dieser Spielzeit im Haupthaus, wird klar, worauf sich der neue Ansatz im Residenztheater vollends verlässt: auf…
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Fast 20 Szenen vieler Lieben – „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ im Metropoltheater (Kritik)
Was ist das, die Liebe? Diese Frage stellt sich die Menschheit schon, seit sie begonnen hat, Menschheit zu sein, und bis heute waren alle Antworten wohl eher unbefriedigend. Nun nimmt sich das Metropoltheater mit der Inszenierung des Stücks „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ von Jöel Pommerat an, und hat dabei zwar kein Bühnenbild, aber dafür eine Menge schauspielerische Leistung zu bieten. Immerhin sind gleich neun Schauspieler*innen mit von der Partie: Butz Buse, Vanessa Eckart, Paul Kaiser, Nikola Norgauer, Hubert Schedlbauer, Thomas Schrimm, Dascha von Waberer, Eli Wasserscheid und Lucca Züchner – und alle geben ihr bestes, um diesem doch sehr schwierigen Episodenstück Leben einzuhauchen. Bei fast 20 Szenen wird auch schnell klar, warum. Denn geht es zwar in jedem Einzelnen…
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Wenn wir in Europa sind – „Kassandra/Prometheus. Recht auf Welt“ im Marstall (Kritik)
„Wenn wir in Europa sind, wird es schon aufhören, du wirst sehen“, sagt Boubacar zu Blessing, um sie zu beruhigen. Ihre Albträume der gescheiterten Flucht, der Angst des Ertrinkens, sie werden aufhören. Ob es denn so gekommen wäre, wird man nie erfahren – Blessing schafft es nicht nach Europa. Ihre Geschichte, auch die ihres Mannes, und dem Fortgang derer, wird in „Kassandra/Prometheus. Recht auf Welt“ erzählt, einem Diptychon, das am 19. Dezember 2019 im Marstall des Residenztheaters Premiere feierte. Zweigeteilt präsentiert sich der Abend. Anfangs kommt „Kassandra oder Die Welt als Ende der Vorstellung“, ein überarbeitetes Stück aus dem Jahr 2010 über die Geschichte der oben erwähnten Flüchtlingsdame Blessing und…