„Ich kann sie doch nicht heiraten“ – „Der starke Stamm“ im Residenztheater (Kritik)

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Knapp 70 Jahre ist es her, dass Marieluise Fleißers „Der starke Stamm“ Premiere an den Münchner Kammerspielen feierte und dabei, mit Bertolt Brechts Hilfe, die Rückkehr ihres Materials auf die Bühne begründete. Als „Volksstück“ betitelt sie ihre schwarzhumorige Tragikomödie voller Spitzen, teilweise wie ein Bauerntheater, aber dabei doch im Text so viel klüger. Nun kommt das Werk auf die andere Straßenseite, Jahrzehnte später in einer völlig anderen Zeit, aber im Originaltext und ohne große Anstalten, eine Modernisierung vorzunehmen. Die Premiere am Residenztheater fand am 23. Januar 2020 statt.

© Sandra Then

Spätestens nun, bei der neunten Premiere dieser Spielzeit im Haupthaus, wird klar, worauf sich der neue Ansatz im Residenztheater vollends verlässt: auf ihr Material. Und das ist weniger die Bühne, die von Paul Zoller zwar passend und stimmig als hölzerner Teilstall gezeichnet wird, aber letztendlich konstant und unaufdringlich bleibt, nein, es sind die Darsteller und ihr Text. Der Fokus liegt deutlich auf reines Schauspieltheater, was Fleißer absolut entgegenkommt, denn große Performance käme nur ulkig und unpassend, selbst die Schlägerei zwischen Vater und Sohn präsentiert sich erdig und ehrlich. Die 100 Minuten trägt die Geschichte allemal, wenngleich manche Länge nicht umgehbar ist und die Eingewöhnung auf die sprachliche Form ihre Zeit braucht, aber dann entfaltet Fleißers makabrer Zynismus seine Komik – und eben auch Tragik.

Regisseurin Julia Hölscher weiß bestens, dass clevere Lichttechnik, ein Motorrad und etwas dramaturgischer Kunstregen vollkommen ausreichen, um die Akteure zu unterstützen. Im Mittelpunkt dabei immer Leonhardt Bitterwolf (großartig unaufgeregt: Robert Dölle), dessen Frau verstorben ist. Wenige Minuten dauert es, bis die Verwandtschaft beim Leichenschmaus ihre Habseligkeiten unter den Nagel reißen will – allen voran Schwägerin Balbina (durchtrieben: Katja Jung), die sich kurzerhand bei Bitterwolf einnistet und mit dem Ersparten des Witwers ins Glücksspielgeschäft einsteigt. Sohn Hubert (ausdrucksstark und intensiv: Johannes Nussbaum) möchte nur Kunst-Maler werden, aber der handwerksorientierte Vater verbietet ihm das, verwehrt ihm die finanziellen Mittel. Problematisch wird es dann vor allem mit Magd Annerl (kalkulierend naiv: Luana Velis), die zugleich Vater und Sohn begehren. Ein heilloses Durcheinander ist da bereits vorprogrammiert.

© Sandra Then

Das harmonische Zusammenspiel ist es auch erst, dass die Spannungen zwischen den Charakteren entstehen lassen kann. Dölle, Jung und Velis hatten bereits bei „Sommergäste“ eine gemeinsame Eingewöhnungsphase, Nussbaum fügt sich in das Quartett bestens ein. Auch die umherliegenden Figuren um den Metzerjackl (Niklas Mittereger) oder den Schwager (Thomas Reisinger) erfüllen gekonnt ihren Zweck, insbesondere der reiche Onkel von Rottenegg, dramaturgisch clever zum Schluss eingesetzt und kauzig dargeboten von Arnulf Schumacher, der das endlose Streben nach Selbstinszenierung beendet und den belohnt, der sich selbst treu bleibt. Ärgerlich: niemand kann so recht den bayerischen Flair, den Fleißers Vorlage (Ingolstädterin!) innehat, sprachlich transportieren. Aber auch so funktioniert jedes Wort.

Zeitgemäß ist das alles nicht. Doch das ist überhaupt nicht der Anspruch, die aktuelle Relevanz ergibt sich durch das wie immer finanziell getragene Fazit, die zwischenmenschliche Gier, weniger durch die standesbedingten Zweifel („Ich kann sie doch nicht heiraten“) und dem Missverständnis eines Künstler-Daseins. Am Ende gewinnen die Guten, die Reichen, und es verlieren die, die dreckig gespielt haben. Vielleicht ein wenig zu rosa für so ein rabenschwarzes Stück.

Kritik: Ludwig Stadler