Es ist einerseits eine tragische, aber die zugleich beachtlichste Pandemie-Geschichte in der deutschen Musik-Industrie: Provinz. Mitten in ihrem Durchbruchsjahr beendet der Virus jäh etliche Planungen, unzählige Touren und verzögert auch die Veröffentlichung des Debüt-Albums. In der Kurzlebigkeit mancher Musikinteressen kann das rasend schnell das Ende einer Reise bedeuten, die noch nicht einmal angefangen. Doch allen Widerständen zum Trotz spielen die vier Jungs aus Vogt bei Ravensburg in zwei Sommern wirklich jede Möglichkeit eines Abstandskonzerts, bleiben irrsinnig präsent und nutzen die Zeit für immer mehr neue Musik, die in Zeiten von heimischer Sehnsucht nach Freude und Tanz großartig einschlägt. So gelingt es ihnen, den Hype auch ganz ohne reguläre Tourneen zu nutzen, auszubauen und pausenlos aktiv zu bleiben. Anfang 2020 hat man ihnen in München – bei regulärem Verlauf – in etwa zwei Jahren eine volle TonHalle prophezeit. Dass dies nun tatsächlich am 15. Februar 2022 passieren wird, wenn Provinz in der bereits jetzt schon sehr gut verkauften TonHalle spielen wird, ist nichts anderes als eine beachtliche Erfolgsgeschichte.
Die erste Tournee sollte allerdings eine kleine, heimelige werden, sie ging bereits 2019 in den Vorverkauf und war recht flott ausverkauft – etwas, mit dem die Jungs nicht so recht gerechnet haben. Diese Fans der ersten Stunde sollen unbedingt bespielt werden, weshalb die Tour bestehen bleibt und derzeit im April 2022 angesetzt ist. Davor: die dieses Jahr in den Vorverkauf gegangene „Zu spät um umzudrehen“-Tour Anfang 2022 und die sehr ausufernde „Wir bauten Euch Amerika“-Tour zum ersten Album, startete nun am 8. November 2021 im Münchner Technikum. Das erste eigene Hallenkonzert und zugleich der Startschuss zu einer pausenlosen Tourphase, die fast ein halbes Jahr anhält. Ordentlich Respekt davor haben sie allemal, wie sie bereits im Interview mit uns im Sommer verrieten. Doch nun geht es tatsächlich los und die Freude ist bei Band und Fans riesig. Auch die recht kurzfristig eingesetzte 2G-Regel hält niemanden vom Besuch ab, der Einlass läuft flüssig. Das Technikum wird zum Ort für ein doch immerhin historisches Ereignis in der Bandbiografie.
8. November 2021 – München, Technikum
Der Saal füllt sich nur spärlich, wird aber am Ende beim Headliner ordentlich voll sein, einschließlich des geöffneten Balkons, der bereits symbolisiert: dieser Abend ist ausverkauft. Unglücklicherweise steht bei vielen Konzertbesuchern die Startzeit von 21 Uhr auf der Karte, die aus dem Strom Club resultiert, aus dem das Konzert hochverlegt wurde. Die Zeiten wurden allerdings geändert, daher kommen viele erst zum Start von Provinz um 20:30 Uhr, den um 19:40 Uhr bereits anfangenden Ennio verpassen viele. Der junge Münchner war bereits vergangenes Jahr in Dachau als Support dabei, damals noch unter dem Namen EmotionalClub, diesen Sommer im Olympiastadion schon als Ennio. Nun darf er die beiden Abende in seiner Heimatstadt eröffnen, außerdem auch einige weitere Daten der Tour mitfahren. Sein Wechsel zu deutschen Texten und mehr elektronischen Background kommt beim Publikum gut an, es klingt wie Henning May auf Club-Beat mit dann allerdings doch arg belanglosen Texten. Auszusagen hat Ennio reichlich wenig, aber das ist auch nicht allzu nötig – die Besucher*innen freut es, die Beats regen zum leichten Tanzen an und vielleicht ist es ja auch gar nicht zu schlecht, dass nicht ein Klon der Haupt-Band als Support dabei ist.
Sehnsüchtig erwartet: Provinz. Die lassen erst einmal alles abdunkeln und „Nightcall“ in voller Länge durchlaufen, bevor sie mit „Hymne gegen euch“ und „Verlier Dich“ den Abend schnell und treibend eröffnen. Zu Beginn gibt es noch ein paar Sound-Schwierigkeiten wie zu lautem Background-Gesang und einem relativ matschigen Gesamtklang – das pendelt sich aber schnell ein und wiederholt sich am Folgetag nicht mehr. Crew und Band sind gut eingespielt, aber dieses Hallenkonzert – das ist was Neues, das ist direkter, das ist lauter. Wenn Fans jetzt die Lieder mitsingen, ist es plötzlich zehnmal so voluminös. Wenn es nun mitreißend wird, ist Tanzen ganz ohne Abstand und Maske möglich. Von dieser puren Freude überwältigt lebt auch die Stimmung: die Lieder werden besungen, betanzt und beklatscht. Spannend ist, dass vor allem Nummern wie „Neonlicht“ und „Was uns high macht“ besonders beliebt sind – genau die Lieder, die zum Moment des Kartenkaufs bereits veröffentlicht waren und damals für viele im Publikum sicher der Auslöser des Besuchs war – ganz im Gegenteil zum Zusatzkonzert am Folgetag. Hier sind viele Fans, die vor dem Hype schon auf das Vierergespann aus drei Cousins und Drummer Leon aufmerksam geworden sind. Das hinterlässt eine gewisse wohlige Stimmung und zugleich auch das Gefühl, dass man hier nicht nur beim Startschuss eines Vier-Touren-Gespanns dabei ist, sondern wohl auch das erste und einzige Mal Provinz in diesem kleineren Rahmen erleben wird.
Die Band selbst ist wunderbar aufgelegt und hat sich bemüht, trotz der noch zählbaren Anzahl von Songs, eine stimmige Setlist mit ein paar neuen Überraschungen zusammenstellen, u.a. zwei neuen Liedern und einem Cover von „Denkmal“ der fast schon vergessenen Band Wir sind Helden. Ansonsten gibt es allerlei aus dem Debüt-Album und den beiden EPs. Die Liste gleicht doch ziemlich der des Sommerkonzerts – und dennoch stellt sich besonders bei den neuesten, unveröffentlichten Songs etwas heraus, was man sonst bei Bands im Indie-Hype selten sieht: die Lieder werden qualitativ besser und gehaltvoller, auch verspielter und sogar textlich mächtiger. Eine Seltenheit, in so kurzer Zeit so deutlich musikalisch zu wachsen, während die Genre-Kollegen allesamt nach dem Debüt abbauen. Doch so richtig Indie sind Provinz ja sowieso nicht – die Musik ist eher eine gesunde Mischung aus Folk, Soul, Pop und einer Prise Funk. Mit erzwungen edgy Texten oder musikalisch krampfhaft gesuchter Authentizität hat das alles wenig zu tun, die Musik ist ehrlich, mit Substanz und überzeugend. Das weiß auch das Publikum, dass nach 90 Minuten und dem Rausschmeißer „Wenn die Party vorbei ist“ klatschend und johlend zur Hallen-Premiere gratuliert. Den Musikern fällt ein Stein vom Herzen, zwei Jahre nach VVK-Start nun doch endlich diese Konzerte zu spielen. Einstand gelungen!
Setlist: Hymne gegen euch / Verlier Dich / Neonlicht / Du wirst schon sehen / Tanz für mich / Augen sind rot / Diego Maradona / Aileen / Nur bei dir / Verrate deine Freunde / Zimmer / Alles gut, keine Angst / Was uns high macht / Denkmal (Wir sind Helden cover) / Ich baute dir Amerika – Zugaben: Weit Weg / Großstadt / Reicht dir das / Wenn die Party vorbei ist
9. November 2021 – Backstage München
Für die zweite Runde in München verdoppelt sich gleich mal die Kapazität – rund 1.400 Personen passen in das ausverkaufte Backstage Werk und arg viel weniger sollten es auch nicht werden. Mit Kontaktdatenerfassung und 2G-Kontrolle zieht sich der Einlass allerdings im Gegenteil zum Vorabend deutlich – so sehr, dass Provinz den gesamten Abend eine Stunde nach hinten legen und Ennio dementsprechend erst um 20:45 Uhr loslegen lassen, der im annähernd vollen Werk die gleiche Setlist und Show wie am Tag zuvor präsentiert. Die Schlange draußen, weit bis hinter der Unterführung, wird dann aber doch immer weniger und bis zum Start von Provinz um 21:30 Uhr dürften alle da sein. Die Luft wird jedenfalls dünner und alles zwangsläufig wärmer – ein ungewohnter Anblick, wenn man in die rappelvolle Arena blickt. Das Publikum: sichtbar jünger als im Technikum, außerdem fallen allerlei Ennio-Lookalikes auf. Es ist sind die Fans nach dem Hype, die natürlich genauso passioniert zu den Liedern singen, aber Titel wie „Neonlicht“ eher ignorieren und zum Bier holen oder Quatschen nutzen. Stattdessen gibt es Eskalation bei „Tanz für mich“ und eine Steigerung davon noch einmal beim gleichen Lied als ungeplante End-Zugabe. Moshpit inklusive.
Ein Schockmoment folgt mitten in der Zugabe nach „Großstadt“ – jemand ist umgekippt. Rund fünf Minuten ist Konzertabbruch, Stille, Sondierung und danach das Raustragen des Sanitäters. Die Band ist sich unsicher, was man tun soll, die Stimmung ist etwas abgeflaut. Am Ende wird sich dazu durchgerungen, „Reicht dir das“ als melancholischen Abschluss zum Besten zu geben. Die gute Nachricht folgt aber zugleich: die Person steht wieder und ist fit, es war nur ein Kreislauf-Kollaps, Grund genug das ausstehende „Wenn die Party vorbei ist“ doch noch zu spielen – und „Tanz für mich“ zum zweiten Mal gleich noch hinterher. Provinz fühlen sich sichtlich wohl im lautstarken und euphorischen Mitsingen des Münchner Publikums, dass sich nur stetig steigert – die Stimmung ist ausgelassen und großartig, die aufgesparte Energie der Pandemie-Monate muss endlich raus. Das macht fetzige Songs wie „Zimmer“ und „Nur bei dir“ fast noch stärker als sie sowieso sind, kollidiert dann aber mit Balladen wie „Weit weg“ und „Alles gut, keine Angst“ – ruhiges Zuhören mag einfach nicht funktionieren. Doch soweit egal, denn Ruhe und Stille gab es genug, auf der Bühne wird aufgedreht und das wird zelebriert.
Den Einstand in die eigenen Hallenkonzerte haben Provinz in München erfolgreich absolviert und sich sogar innerhalb von zwei Tagen noch einmal gesteigert. Das Münchner Publikum: dankbar und unterstützend. Nun dürften die vier Jungs gewappnet sein für die beachtlichen über 65 Konzerte, die noch bis Sommer 2022 anstehen. Sie sind auf dem genau richtigen Weg, sich langfristig als grandioser Live-Act zu etablieren und dem Publikum genau das zu geben, was sie wollen – egal ob vor 100 oder 4000 Personen. Du wirst schon sehen!
Bericht: Ludwig Stadler