Die Themenbereiche Migration und Integration bestimmen auch 2018 wieder die Schlagzeilen der Medien und setzen zweifellos die Agenda in den öffentlichen Debatten. Gerade die neue Stadtgesellschaft zeichnet sich inzwischen durch Diversität und kulturelle Vielfalt aus; eine Entwicklung, die sich jedoch in einer Institution wie dem Theater bislang erst ansatzweise widerspiegelt. Nicht umsonst unterstützt z.B. auch die Kulturstiftung des Bundes zahlreiche Einrichtungen, um dadurch einen strukturellen Wandel zu Gunsten von interkultureller Permeabilität voranzutreiben.
Auch der bereits im Jahr 2014 in Stuttgart gegründete Verein Zuflucht Kultur sieht in der Förderung kultureller Projekte unter Einbeziehung aller hier lebenden Nationalitäten einen Schlüssel zur Verständigung der Menschen, unabhängig von Herkunft und Ethnie, und damit eine Basis für eine Anerkennungskultur für Menschen mit Migrationshintergrund. So entstanden u.a. integrative Opernadaptionen wie Mozarts Cosí fan tutte oder Bizets Carmen. Das mediale Echo war enorm und selbst Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann wusste in einem Grußwort zum Singspiel Zaide das Projekt als „Kulturerlebnis der besonderen Art“ zu würdigen.
Nun steht mit Orfeo – eine transkulturelle Oper ein frisches Theaterstück auf dem Programm, das diesmal auf der Grundlage der Werke Monteverdis, Grauns, Glucks und Haydns basiert und eine Gemeinschaftsproduktion mit dem Hofspielhaus München darstellt.
Unter der Regie von Annette Lubosch und der musikalischen Leitung von Norbert Groh (unterstützt von Esther Schöpf) werden die klassischen Stücke mit Textzitaten verschiedener Bücher und Schriften (z.B. aus Khalil Gibrans „Der Prophet“) kombiniert, so dass die daraus entstehende Collage, die klassische Orpheus-Sage letztlich vollkommen neu interpretiert.
So wird der Schauplatz des mythologischen Geschehens von der Unterwelt des antiken Griechenlands in das Terrorkalifat des sogenannten Islamischen Staates verlegt, gleichsam ein Ort des Todes, aber für Eurydike, in einem Anfall religiösen Wahns und unter dem massiven Einfluss islamistischer Propaganda, ein Land der ultimativen Verheißung. Der von seiner Geliebten verlassene Orfeo folgt daraufhin dem Ruf seines Herzens (genauer gesagt dem Rat von Amor und Al Mitra) und versucht seine Angebetete aus dem Grauen der zerbombten Gebiete (minimalistisch dargestellt durch ein paar Betonblöcke) zu befreien.
Auch wenn die Verführung junger Menschen durch vermeintliche Heilsbringer und Fundamentalisten aller Art ein Phänomen darstellt, dass an Aktualität und Brisanz kaum zu überbieten ist, wirkt diese Ausgestaltung des klassischen Stoffes von Beginn an etwas manieriert. Leider hat man dann auch während der Aufführung das Gefühl, dass das antike Griechenland und das zerstörte Syrien nicht so recht zusammenpassen wollen. Mal folgt man der klassischen Sage, dann wieder dem blutigen Treiben der Schergen Al-Baghdadis. Der Eindruck einer echten thematischen Synthese stellt sich dagegen selten ein.
Dafür funktioniert das Collagenprinzip auf musikalischer Ebene umso besser. Während die klassischen Opernstücke von Orfeo (gesungen und gespielt von der Mezzosopranistin Cornelia Lanz) und Eurydike (Sela Bieri, Sopran) den motivischen Rahmen vorgeben, setzen die Gesangs- und Tanzeinlagen von Amor und Al Mitra (Wissam und Walaa Kanaieh), Pluton und Charon (Maher Hamida und Mazen Mohsen) ihre ganz eigenen Akzente. Opernarien, arabische Volkslieder und sogar Rap-Einlagen verschmelzen so tatsächlich auf der kleinen Spielfläche des Hofspielhauses zu einem harmonischen Ganzen, wodurch sich die kulturellen Grenzen, wie beabsichtigt, von ganz alleine auflösen.
Jeder der Akteure (nicht zu vergessen Ayden Antanyos als Al Mustafa) spielt dabei mit ganzer Leidenschaft und trägt so dazu bei, dass der gemeinschaftliche Geist auch auf das Premierenpublikum überspringt, das, ganz im Sinne der Inszenierung, am Ende selbst aktiv zum Teil der Aufführung wird.
Fazit: Ein wahrhaft transkultureller Abend, an dem für etwa zwei Stunden (inkl. Pause) ein Miteinander zelebriert wird, von dem die Gesellschaft im Ganzen (und nicht nur hierzulande) leider noch ein gutes Stück entfernt ist.
Bericht: Hans Becker
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