Grenzenlos verspielt – ALIVE im GOP. Varieté-Theater (Kritik)
Artistische Darbietungen vereinen oft auf faszinierende Weise körperliche Kraft mit spielerischer Leichtigkeit. In kleinen, erzählerischen Szenen eingebettet und unter Verwendung von Requisiten oder raffiniert gestalteten Bühnenelementen, entfaltet sich eine besondere Poesie der Bewegung – mal verspielt, mal fast kindlich. Wie sehr artistische Disziplinen an Spielgeräte auf einem Kinderspielplatz erinnern, zeigt die neue Show im GOP Varieté-Theater München. ALIVE feiert am 16. Oktober Premiere und lädt das Publikum zu einer lebendigen Reise zwischen Staunen und Nostalgie ein.
Die Show entfaltet sich rund um das Setting eines Spielplatzes – ein fantasievoller Ort, von dem aus sich immer wieder kleine szenische Episoden entwickeln. Die Künstler*innen begegnen einander in wechselnden Konstellationen, tauchen in die Geschichten ihrer Mitspieler*innen ein oder stehen eben im Zentrum ihrer eigenen Darbietung. Regisseur Robin Witt ließ sich für das Konzept des Abends von Spielplatzbesuchen mit seiner Tochter inspirieren – ein charmantes Bild, das die Idee der bewahrten kindlichen Verspieltheit im Erwachsenenleben aufgreift.

Das Duo Faludy greift zum Beispiel die Wippe als artistisches Gerät auf, in der Welt der Artistik auch Teeterboard genannt. Dabei wird Leticia von ihrem Partner immer wieder spektakulär in die Höhe geschleudert und landet schließlich nach atemberaubenden Stunts in der Luft in seinen Armen. Das Trio Skating Nistorov geht mit ihrer Rollschuhakrobatik wahrlich an die Grenzen des Möglichen und Sarah Stachowicz zeigt eine sinnlich-poetische Nummer an der Pole, die das Publikum träumen lässt. Der mehrfache Jojo-Weltmeister Shu Takada zeigt eindrucksvoll, welches ungeahnte Potenzial in dem scheinbar simplen Spielzeug steckt. Und auch Nikolai Shelamov auf der Slackline und Mila Roujilo mit ihren Hula Hoops führen vor Augen, wie viel kreative Energie und artistische Raffinesse in den Geräten unserer Kindheit schlummern. Am Ende tritt noch Mia Ferreira am sogenannten Washington Trapez auf – eine besonders schwere Trapezstange, die für Sprünge und Balancetricks geeignet ist – und schwebt im wahrsten Sinne des Wortes über die Köpfe des Publikums hinweg.
So poetisch der Ansatz des Abends auch ist, stößt das Regiekonzept in Kombination mit den typischen Elementen des Varietés an seine Grenzen. Denn die Artistik, wie sie im Varieté häufig präsentiert wird, lebt nicht selten von einer gewissen Sinnlichkeit und körperbetonten Inszenierung – so auch an diesem Abend. Die vermeintlich unschuldigen Bilder von schaukelnden oder rutschenden Kindern werden daher immer wieder durchbrochen: etwa, wenn Christoph Muchsel auf der Rutsche plötzlich sein T-Shirt auszieht und eine kraftvolle Handstand-Akrobatik beginnt. In solchen Momenten entsteht eine irritierende Reibung zwischen kindlicher Unbeschwertheit und erotischer Aufladung. Man fragt sich unweigerlich, ob diese beiden Pole wirklich miteinander harmonieren – oder ob hier ein Bruch entsteht, der kritische Reflexion fordert.

Was aber definitiv funktioniert, ist die Comedy des Abends. Denn auch dieses heitere und freie Lachen über Dinge, die in den Worten des Comedians Jeff Hess einfach nur „bescheuert“ sind, gehören zur Kindheit dazu. Hess bindet Zuschauer in seine Physical Comedy mit ein – spielt mit ihnen imaginär Tischtennis oder rast auf einem unsichtbaren Motorrad durch den Zuschauerraum. Diese Verspieltheit und Einbildungskraft sind es, die sich gut in das Konzept einbauen lassen, ohne verwirrende, doppeldeutige Bilder zu erzeugen. Komödiantisch-artistisches Highlight des Abends ist allerdings Sebastian Berger. Mit seiner Solo-Nummer Professor’s Things verbindet er Comedy mit seiner einzigartigen Jonglage-Technik, die Objektmanipulation und Ball-Jonglage miteinander verbindet und scheinbar Unmögliches möglich macht.
Am Ende bleiben viele Momente des Staunens – aber auch einige des Nachdenkens. Die artistischen Darbietungen in ALIVE sind, ganz in der Tradition des GOP Varieté, von höchster Klasse und beeindruckender Präzision. Doch das dramaturgische Gesamtkonzept wirft Fragen auf: Die Übergänge zwischen Szene und Nummer wirken mitunter konstruiert, das Verhältnis zwischen kindlicher Unbeschwertheit und erwachsener Darstellung bleibt an einigen Stellen unausgereift. Was passiert, wenn Erwachsene beginnen, Kinder auf der Bühne zu verkörpern? Wo geraten szenische Mittel an ihre Grenzen? Und mit welchen Bildern müssen wir besonders sensibel umgehen? ALIVE hinterlässt damit nicht nur den Eindruck großer körperlicher Kunstfertigkeit, sondern regt auch dazu an, über die feinen Grenzen zwischen Darstellung, Spiel und Bedeutung auf der Bühne intensiver nachzudenken.


