Verhaltener Applaus nach knapp 90 Minuten hochpolitischem Theater. Zunächst traut sich niemand, sich von seinem Sitz zu erheben, dem ein oder anderen laufen Tränen über die Wangen. Doch die Verlegenheit des Publikums steht nicht in Zusammenhang mit der Qualität des Stückes. Vielmehr muss das gerade Geschehene und Gesehene erstmal verdaut werden. Auf dass es in den Köpfen der Menschen ankommt und eine Änderung ihres Denkens und Verhaltens im Alltag erreicht. Urteile (revisited) – Nach dem Prozess feierte am 21. Oktober 2021 Premiere im Marstall-Theater.
In Jahre 2021 jährt sich das Öffentlichwerden des sogenannten NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) zum zehnten Mal. Die ersten Morde, die dieser beging, liegen nun mehr als zwanzig Jahre zurück. Bereits 2014 brachte Regisseurin Christine Umpfenbach Urteile heraus, welches im Residenztheater uraufgeführt wurde. Es war das erste Stück im deutschsprachigen Raum, dass sich mit der Perspektive der Opfer des NSU beschäftigte. Urteile (revisited) ist nun eine Art Reenactment dieses Werkes und stellt eine Fortführung der Perspektiven und Geschehnisse ins Jetzt dar. Nachdem 2018 das Urteil gegen die Täter gesprochen wurde, gibt es nach wie vor Rede- und Klärungsbedarf. Sowohl auf Seiten der Justiz, in welcher sich rechtsextreme Strukturen immer deutlicher aufzeigen, als auch auf Seiten der Opfer, deren Stimme gehört werden muss.
Das Stück wartet nicht mit einem imposanten Bühnenbild oder eindrucksvollen Effekten auf, doch genau dieser minimalistische, cleane Rahmen rückt die Botschaft, die Umpfenbach uns mitteilen will, ins Zentrum des Abends. Die Schauspieler Myriam Schröder, Thomas Reisinger und Delschad Numan Khorschid verkörpern jeweils mehrere Rollen und überzeugen dabei auf ganzer Linie. Angehörige der Opfer, Politiker, Journalisten, Juristen – die drei transportieren gekonnt jeden der unterschiedlichen Standpunkte, die verschiedenen Ziele, Wünsche und Ängste, sodass der Zuschauer einen guten Überblick über die Debatten und Positionen erhält.
Besonders eindrucksvoll ist die Arbeit der Regisseurin mit Originalzitaten und sogar originalen Sprach- und Interviewaufnahmen der Prozessteilnehmer. Die Wahrhaftigkeit der Umstände wird dadurch besonders unterstrichen und das Publikum wird mitten in die Verhandlungen hineingezogen. Doch am stärksten bleiben nach wie vor die Texte der Menschen, denen der NSU einen geliebten Menschen genommen hat. Einen Freund, einen Vater, einen Bruder. Eine solche Lücke kann durch nichts wieder geschlossen werden, besonders, da der Umgang der deutschen Justiz mit den immer noch vorhandenen rechtsextremen Strukturen im Land stark zu Wünschen übrig lässt. Vor zu vielen Tatsachen werden die Augen verschlossen, ein größeres Ganzes scheint sich nicht erkennen zu lassen. Dass sich da bereits seit langem eine große, rechte Welle zusammenbraut, will wohl niemand wirklich wahrhaben. Doch wir müssen dies akzeptieren und anfangen, dagegen zu arbeiten. Für all jene, denen rechte Gewalt einen Menschen genommen hat, die tagtäglich mit Rassismus und Ausgrenzung zu kämpfen haben. Aber auch für uns selbst. Für ein friedliche Zukunft und ein gemeinschaftliches Miteinander. Für ein Land, das zusammenhält und in dem Hass keine Chance hat.
Kritik: Rebecca Raitz