Die bittere Pille des Betrugs – „Gschichtn vom Brandner Kaspar“ im Residenztheater (Kritik)
Es ist vielleicht die bekannteste und bedeutendste Volkserzählung im oberbayerischen Raum: Die Gschicht vom Brandner Kaspar. 1871 hat Franz von Kobell die Erzählung über den gewieften Bayer, der dem Tod mit Alkohol und Beschiss überlistet, veröffentlicht. Seitdem hat sie ein Eigenleben entwickelt: Drei Kinofilme, zahlreiche Inszenierungen und ein Legendenstatus, der mittlerweile über Generationen reicht. Es ist dieses eine Stück, auf das sich Laientheater und professionelle Schauspielhäuser stets einigen können, bei dem fast schon im Voraus klar ist, dass es stets ausverkauft sein wird. Nicht anders war es, als das Residenztheater eine Neuinszenierung für Juni 2025 angekündigt hat!
Besonders ist hier zudem das Kreativteam hinter der Neufassung: Für den Text zeichnet sich Franz Xaver Kroetz verantwortlich, bayerisches Urgestein als Autor und Schauspieler und bereits seit über zehn Jahren nicht mehr schreiberisch aktiv gewesen. Inszeniert hat den Text Philipp Stölzl, erfolgreicher Film- und Theaterregisseur, der bereits mehrfach unter großem Ansehen am Residenztheater inszeniert hat („Das Vermächtnis“ wurde zum Theatertreffen eingeladen) und dessen 2017er-Inszenierung von „Andrea Chénier“ an der Bayerischen Staatsoper bis heute zu den gewaltigsten Neuproduktionen zählt, die München gesehen hat. Weil das noch nicht genug ist und eben gerade der Brandner Kaspar am Residenztheater so eine enge und bedeutende Historie hat, übernimmt die Titelrolle niemand aus dem Ensemble, sondern ein tief verwurzeltes Original aus Bayern: Günther Maria Halmer. Die Verpflichtung des 82-Jährigen, der damit nach weit über 50 Jahren auf die Bühne des Bayerischen Staatsschauspiels zurückkehrt, ist ein wahrer Coup.

So stehen die Zeichen also bestens für den neuen Brandner Kaspar, und schon der erste Blick auf das hölzerne, riesige Tor auf der Bühne hinterlässt gespanntes Staunen. Wie funktioniert denn ein Brandner Kaspar, der im Jahr 2025 neu geschriebenen und interpretiert wird? Recht traditionell, das wird schnell klar, aber nicht, ohne die Gefühle und Zwischentöne intensiver zu erkunden. „Do waar i wieda amoi“ sind die ersten Worte des Boandlkramers ans Publikum, mit einem Dauergrinsen im adretten Anzug, wie ein unangenehmer Vertreter, der von Beginn an mit einem absoluten Selbstverständnis auftritt: Er weiß, wie es geht, so wird es gemacht, so war es schon immer, so ist es ihm aufgesetzet. Florian von Manteuffel, der hier seine sonst eher selten genutzten Bayrisch-Skills auspacken darf, gelingt diese Balance aus Selbstverständnis und – als es einmal nicht so läuft wie erwartet – Verwunderung grandios. Naiv, das ist sein Boandlkramer nicht, lediglich schwach in einem Moment – diesem einen verheerenden Moment mit dem Kerschgeist.
Ihm gegenüber steht Halmer als Brandner Kaspar, der die meiste Zeit des Stücks auf einer Bergkulisse verbringt. Vital und mit Lebensfreude, aber eben mit der typisch kauzig-grantligen Art, verkörpert er den Brandner als tief in den Bergen verwurzelter Bayer, der zufrieden ist mit dem, was er hat, aber zugleich auch Angst vor dem, was sich verändern könnte, und das, was sich schon verändert hat, nicht versteht. Weiter als bis nach München ist er nie gekommen, und wo Amerika liegt, weiß er nicht. Als im späteren Verlauf einmal seine Tochter im Vorstadt-Outfit des Jahres 2025 vor ihm steht, sitzt er ratlos da und findet keine Worte. Kroetz ist sich dessen bewusst, dass die ganze Geschichte nicht mehr ganz so repräsentativ für Bayern ist. Muss sie auch nicht, im Mikrokosmos der Berge ist sie bestens aufgehoben.

Kroetz streicht die Himmel-Passagen deutlich zusammen, Stölzl spielt aber genau diese besonders aus: Michael Goldberg als Petrus hat nicht viele, aber einprägsame Auftritte. Wenn er beispielsweise dem Boandlkramer eine Tirade bayerischer Schimpfwörter vor den Latz knallt, gibt es Szenenapplaus. Als er sich im Paradies an die junge Josefa heranmacht, herrscht betroffenes Schweigen – Kroetz wäre nicht er, würde er den Rahmen nicht für deutliche Kritik nutzen. Die lässt er Halmer als Brandner auch deutlich zur Geltung bringen: Die düsteren Momente der Geschichte spielt er intensiv aus, dazu inszeniert Stölzl ebenso dunkel und lässt Halmers Monolog zu Gott, in dem er ihn für sein Nicht-Handeln bei ihm und der Welt verurteilt, zum schauspielerischen Höhepunkt werden. Josefas Tod wird ebenso alles andere als verklärt-romantisiert dargestellt, stattdessen liegt sie blutüberströmt unter einem Leichentuch. Zimperlich ist die Geschichte nämlich, bricht man sie herunter, kaum.
Die Szenen wechseln oft schnell, das Bühnenbild hinter dem Pfortentor ändert sich häufig und schließt sich ebenso oft. Währenddessen gibt es musikalische Untermalung von drei Live-Musikerinnen mit Kontrabass, Akkordeon und Akustik-Gitarre, die die kurze Wartezeit gut überbrücken, aber beim zehnten Umbau dann doch etwas repetitiv wirken. Ausgeglichen wird das aber mit einer schier überragenden Fahrt zum Paradies von Halmer und von Manteuffel auf dem fliegenden Bett durch projizierte Welten. Und anstatt die Ankunft Brandners im Himmel endlos lange auszuspielen, wie es in zahlreichen Textfassungen der Fall ist, bringt Kroetz pointiert und ohne Umschweife zu Ende. So und nicht anders bringt man die Geschichte vom Brandner Kaspar im Jahr 2025 auf die Bühne – mit der gekonnten Verknüpfung von Ursprungswerk und neuen Ansätzen. Chapeau!
Kritik: Ludwig Stadler

