Als Mohammed Moulessehoul unter dem Pseudonym Yasmina Khadra 2005 sein Buch „Die Attentäterin“ veröffentlichte, hatte der islamistische Terror bereits Europa erreicht. Spätestens mit den verheerenden Anschlägen von Madrid und London hatte sich die Bedrohung durch den religiösen Fanatismus als Gefahr für die gesamte westliche Welt konkretisiert und war kein Phänomen mehr, das sich auf den Nahen und Mittleren Osten reduzieren ließ oder auf einen Krieg zwischen den USA und al-Qaida. Durch die Entwicklungen der letzten Jahre aber, dem weltweiten Terror des IS, dem es gelang, auch zahlreiche junge Frauen aus Europa zu rekrutieren, ist das sensible Thema des Romans heute sogar noch näher, brisanter und aktueller denn je.
Khadras Attentäterin ist eine verheiratete, dem Anschein nach gut in die israelische Gesellschaft integrierte Palästinenserin, die sich im Zentrum von Tel Aviv unter feiernden Kindern in die Luft sprengt. Ihr Ehemann Amin, ebenfalls Palästinenser mit israelischem Pass, erfolgreicher Chirurg und befreundet mit jüdischen Kollegen und Nachbarn, muss zunächst tatenlos zusehen, wie sich sein ganzes Leben in ein einziges Trugbild verwandelt und wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Unter Terrorverdacht wird er vom israelischen Geheimdienst verhaftet und von der Gesellschaft gebrandmarkt. Als er wieder auf freiem Fuß ist, begibt er sich auf eine Reise in die Palästinensergebiete und sucht nach Antworten, um die Geheimnisse seiner Frau zu entschlüsseln.
In seiner zweiten Theaterarbeit an den Münchner Kammerspielen stellt sich der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani bei dieser Vorlage gleich zwei besonderen Herausforderungen. Amins Suche nach der Wahrheit ist verbunden mit zahlreichen Schauplatzwechseln und der Auseinandersetzung unterschiedlichster Figuren, die vom Roman ins Theater transferiert werden müssen. Die Komplexität der Fragestellung und das Abtauchen in eine Welt fremder, radikaler Denkprozesse, erfordert zudem eine Erzähltechnik mit einem Mindestmaß an Transparenz, um dem Publikum den ausreichenden Zugang zur Inszenierung zu ermöglichen.
Fast schon folgerichtig wird ein großer Teil der knapp zweistündigen Aufführung mit Unterstützung von Videotechnik auf der großen Bühnenrückwand gesondert visualisiert und das Mienenspiel der Akteure unübersehbar akzentuiert in Szene gesetzt. Das spärliche Bühnenbild, ein polyfunktionaler weißer Tisch (mal Ess-, mal OP-Tisch), setzt keinerlei eigene Akzente, sondern dient nur dazu, die unterschiedlichen Personen und Positionen buchstäblich an einen Tisch zu bringen. Koohestani lässt dabei auch die Attentäterin Sihem (Mahin Sadri) zu Wort kommen, die in ihrer eigenen Sprache (Farsi) spricht und in jeglicher Hinsicht Kontra- und Höhepunkte setzt. Ihr geisterhafter Auftritt nach dem verübten Anschlag gehört zu den intensivsten und bewegendsten Momenten des Abends. Im Vergleich dazu wirkt der Auftritt des restlichen Ensembles merkwürdig blass oder einfach unpassend besetzt.
Das mag auch daran liegen, dass, mit Ausnahme von Thomas Wodianka als Amin, sämtliche Schauspieler unterschiedliche Rollen übernehmen müssen, ohne dass sich ihre Art der Darstellung dabei wesentlich verändert. So jedenfalls fällt die Orientierung für den Zuschauer nicht immer leicht, zumal im zweiten Teil des Stückes auf die Videotechnik verzichtet wird und die Dialoge (gefühlt) länger und länger werden. Samouil Stoyanov spielt als Vertreter des repressiven, israelischen Staates, den mit der Aufklärung des Attentats betrauten Polizisten Moshe zwar mit eiskalter, fast mechanischer Attitüde, wirkt aber dennoch in dieser Rolle, auch durch den starken österreichischen Dialekt, nie so ganz glaubwürdig und steht damit repräsentativ für einen der Hauptkritikpunkte an dieser Inszenierung.
Diese nimmt gegen Ende noch einmal Fahrt auf, als Amins Neffe Adel (Benjamin Radjaipour) ein weiteres Attentat verübt und die israelische Staatsmacht härter denn je zurückschlägt.
So wie Yasmina Khadra nimmt auch Amir Reza Koohestani keine eindeutige Position ein. Gewalt auf der einen Seite, wird das Ausmaß auf der anderen noch steigern. Keiner der heutigen Konflikte, und schon gar nicht der zwischen Israelis und Palästinensern, lässt sich innerhalb eines Romans oder einer Theaterinszenierung lösen, dennoch lohnt es sich jeden einzelnen immer wieder neu zu überdenken und von den unterschiedlichsten Seiten zu beleuchten.
Die Motive von Frauen, sich an diesen Kriegen und am Terror immer aktiver zu beteiligen, werden dabei nie gänzlich aufgelöst. Es wird zwar einerseits die These entwickelt, ein Selbstmordattentat einer Frau sei eine Art Akt des Widerstandes gegen die Dominanz des Mannes, dieser steht aber andererseits Amins Überzeugung gegenüber, dass man Frauen wie Sihem schlichtweg als besonders geeignete Opfer im Namen einer fatalistischen, religiösen Ideologie missbrauche. „Die Attentäterin“ jedenfalls bleibt für den Zuschauer, so wie für Amin selbst, am Ende ein Rätsel.
Fazit: Sehr, sehr spannender Stoff, dessen Umsetzung zwar nicht vollends gelingt, aber für einen soliden Theaterabend ausreichen sollte.
Kritik: Hans Becker
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