„Aber man muß die Menschen doch lieben, was soll man denn sonst mit ihnen anfangen.“
Nächstenliebe zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsschichten war seit jeher problematisch. Die Einen haben zu viel, die Anderen zu wenig. Sie sind neidisch, wollen aber trotzdem nichts geschenkt, während die, die zu viel haben, versuchen etwas abzugeben, um sich besser zu fühlen, ein reines Gewissen zu haben. Intoleranz und Unverständnis auf beiden Seiten. Ein Teufelskreis, der wohl nie ein Ende finden wird. Doch was passiert im Falle eines sozialen Aufstiegs? Für welches Leben entscheidet sich der Mensch, der beides gesehen hat? Agnes Bernauer feierte am 18. November 2021 Premiere am Cuvilliéstheater.
Im Jahre 1977 erlebte Franz Xaver Kroetzs Werk seine Uraufführung. Eine Bearbeitung von Friedrich Hebbels gleichnamigem Stück war geplant, jedoch entwickelte sich die „Agnes“ im Schaffensprozess anders, entfernte sich durch die neue Zeit, andere politische Gegebenheiten und einer Gesellschaft im Wandel zu etwas völlig Neuem. Kroetz nennt sein Stück ein bürgerliches Schauspiel und ein solches bringt die neue Inszenierung am Residenztheater gekonnt auf die Bühne.
Die Gewerke ziehen an einem Strang: Kostüme, Maske, Bühnenbild. Den sozialen Unterschied kann man den Figuren an der Nasenspitze ablesen. Gehäkelte Kleider und gestrickte Westen hier, Glitzerkostümchen und Spitzenbluse da. Das alles mag zunächst absolut klischeehaft klingen, eine Typisierung lässt sich bei der Darstellung sozialer Schichten auf der Theaterbühne auch nur selten vermeiden, und trotzdem kommt es hier anders, unterschwelliger daher. Die Charaktere werden nicht zu Stereotypen, es lohnt sich, ihnen zuzuhören. Das Stück bleibt bis zum Ende interessant.
In einem bürgerlichen Schauspiel, das zudem auch noch im bayerischen Straubing verortet ist, darf natürlich eines nicht fehlen: die Religion. Genauer gesagt, der Katholizismus. Der Bühnenbild-Komplex ist angelegt wie eine Art Beichtstuhl. Dunkelbraune Holzvertäfelungen, lila Vorhänge. Über den verschiedenen Räumen des sich drehenden Gebildes prangen die Wort des Ave Marias. Der ganze Aufbau unterstreicht gekonnt den biederen, konservativen Charakter eines Stückes, dessen Protagonist eigentlich Rosenkränze sind.
Die Entwicklung der Inszenierung von Anfang bis zum Schluss ist äußerst spannend. Wird einem zu Beginn noch von einigen Wortwitzen im passenden Dialekt und der Unbeholfenheit der Figuren ein Lachen entlockt, so kippt dies im Laufe des Stückes in eine komplett andere Richtung. Mit Agnes‘ sozialem Aufstieg beginnt die zunächst heitere, komische Stimmung der Szenen immer weiter abzunehmen. Mitleid, Scham, Bestürzung – der Zuschauer muss in der zweiten Hälfte so einige negative Emotionen durchleben. Doch besteht darin auch einer der Gründe, warum die Inszenierung so interessant und kurzweilig ist. Durch den Stimmungsabfall bleibt die Geschichte spannend und das Publikum verfolgt gebannt Agnes‘ ungewöhnlichen Weg.
So bleibt am Ende die Frage, wohin es die Protagonistin letztendlich verschlägt, wo sie sich nach ihren Erfahrungen mit dem sozialen Gefälle noch zuhause fühlt. Nachdem aber die Realität der Heimarbeiter wie auch die der Geschäftsführung so ehrlich und kompromisslos offengelegt wurde, fragt man sich eigentlich abschließend nur, ob für Agnes ein glückliches Leben überhaupt noch möglich ist.
Kritik: Rebecca Raitz