Ein Leben in der Endlosschleife – „Wir aus Glas“ in der Muffathalle (Kritik)

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„In unserer Welt aus Glas sind wir Menschen in Kopie und wir sind uns so täuschend ähnlich, dass wir nicht mehr wissen, wessen – ach egal“, bemerkt Steffen Scheumann und schaut traurig in das Publikum der Münchener Biennale.
Die Münchener Biennale ist weltweit das einzige Festival, das ausschließlich Uraufführungen von Werken des neuen Musiktheaters zeigt. „Wir aus Glas“ feierte am 2. Juni 2018 Uraufführung in der Muffathalle. Eine Koproduktion der Münchener Biennale mit der Deutschen Oper Berlin. Der in Tokio geborene Komponist Yasutaki Inamori schrieb die Kompositionen zu einem Stück, das Einblick in die menschliche Psyche gibt. Die Österreicherin Gerhild Steinbuch verfasste das Libretto.

© Smailovic

Der Regisseur David Hermann erschafft eine skurril-surreale Stimmung in seiner Welt der Appartementwohnung. Das kongeniale Bühnenbild von Jo Schramm und die fahrenden Zuschauertribünen lassen das Publikum, welches zum stummen Spanner degradiert wird, in jeden noch so privaten Lebensausschnitt der namenlosen Protagonisten einsehen: Der Frühstücksjoghurt, die Morgenhygiene, Arbeit, Freizeit, Schlaf. Wir folgen sechs Bewohnern einer Stadt über den Zeitraum von einer Woche und betrachten ihren immer gleichen Tagesablauf, der durch die Beobachtung in seinen Eigenheiten vergrößert wird, sich verändert, stockt, aus dem Tritt gerät – und doch nicht aus dem Trott gerät. Spießigstes Miniaturglück. Der Alltag besteht aus zahllosen, kleinen Routinen, die unbemerkt immer wieder aufs Neue abgespult werden. Was aber wird aus der fälschlichen Sicherheit von liebgewonnen Ritualen, wenn man genau hinsieht?

„Schön, du fängst an, alles wie immer.“ Mechelle Daly in platinblond und Thomas Florio als junger Mann geben im lila Kostüm das erste Sängerpaar. Alexandra Hutton und Clemens Bieber tragen zitronengelb und sind das zweite Paar. Es sind Belanglosigkeiten, wie die Fragen nach Befindlichkeit und die ständige Bestätigung der schönen Haare, bei denen sich der Zuschauer ertappt fühlt. Die konstruierte „heile“ Welt darf nicht zusammenbrechen, und so wird der Außenseiter zum Aggressor, dessen Anderssein verdrängt werden muss, weil er das Eigene in Frage stellt.

© Eike Walkenhorst

Moderne Kafka-Figuren hüpfen mit lila Badehaube, im Pyjama oder als Gärtner verkleidet über die Bühne. Alle sechs, von der Kostümbildnerin You-Jin Seo kreierten, Traumgestalten sind mit Instrumenten bewaffnet. Sie haben die Aufgabe, die fünf Protagonisten in ihrer Wohnung musikalisch als instrumentale Klangschatten zu verfolgen, zu begleiten und ihre Handlungen und Gemütszustände tonal zu untermalen. Mal spielen sie schöne Melodien, mal werden diese mit Dämpfern künstlich verzerrt und manchmal geben sie nur animalische Quietsch- und Grunz-Geräusche von sich. Dann gibt Callum G’Froerer mit seiner Trompete schmatzende Handküsse, Kelsey Ma0iorano hechelt mit seiner Oboe das Getümmel eines Techtelmechtels und Mia Bodet mimt mit ihrer Violine quirlige Hochgefühle. Es hat schon einen leicht Sitcom-ähnlichen Charakter, wenn das Wegschnipsen eines Nasenpopels mit einem lauten „Diuuuuung“ von Louise Leverd Violoncellos vollendet wird. Selbst der Stuhlgang wird vertont. Die alltägliche mediale Polyphonie künstlerisch zugespitzt und reflektiert.

Heim, Herd und Wohnzimmer stiften Identität und halten die Angst auf Abstand: Angst vor dem Unbekannten, Unkontrollierbaren, Angst vor dem Fremden. Welche Geheimnisse werden bewahrt, wenn kein Körper sich vor dem anderen verstecken kann? „Wir aus Glas“ verdichtet und stilisiert das routinierte Privatleben im Verhältnis zur Öffentlichkeit zu einem unterhaltsamen Musiktheater. Eine berührend, komische Suche nach dem Ausweg aus der Xerox-Existenz.

Kritik: Carolina Felberbaum