„Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“ So beginnt Albert Camus seinen „Mythos des Sisyphos“. Am Abend des 23. Juli 2021 im Residenztheater müssen wir uns die 68-jährige Elisabeth Gärtner als einen physisch und psychisch gesunden Menschen vorstellen. Und trotzdem: Das Leben bedeutet ihr nichts. Nichts mehr. Seit ihr Mann vor drei Jahren einem Krebs erlegen ist, hat sie nur noch einen Wunsch: zu sterben. So hatte sie ihrem Mann versprochen, es „richtig“ zu machen. Sie verlangt nach einem Medikament, das sie tötet. Nach seinem ersten Theaterstück „Terror“ (2015) hat Ferdinand von Schirach mit „Gott“ (2020) ein weiteres dokumentarisch anmutendes Drama geschrieben, in dem es um existentielle Fragen geht.
An Aktualität ist die Thematik des Freitodes kaum zu überbieten. Erst im Februar 2020 kippte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Verbot organisierter Sterbehilfe. Demnach umfasst das allgemeine Persönlichkeitsrecht (aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG) ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Doch Bundesgesundheitsminister Spahn lehnt die Herausgabe tödlicher Medikamente bis jetzt ab und boykottiert damit die Durchsetzung des Urteils. Ob die pensionierte Architektin mit ärztlicher Hilfe sterben darf, wird bei einer fiktiven Sitzung des deutschen Ethikrats – vertreten durch das Publikum – verhandelt. Dabei kommen Sachverständige aus dem Bereich der Justiz, der Medizin und der Religion zu Wort.
Leidenschaftlich streiten die Experten über die Frage der höchsten Autonomie. Die Juristin Litten, gespielt von Juliane Köhler, erklärt die entschiedene Sachlage. Jeder Mensch soll sich jederzeit aus dem Leben verabschieden dürfen. Und weil Seile reißen können und Zugfahrern diese Belastung nicht zuzumuten ist, soll ein Arzt den Schierlingsbecher reichen. Gewünscht wird der sichere und schmerzlose Tod. Aber dies verbietet der hippokratische Eid, der das berufliche Ethos der Mediziner begründet. Diese sollen heilen und Leid lindern, aber nicht töten, argumentiert der medizinische Sachverständige Sperling, gespielt von Robert Dölle. Sofort erfolgt der Paradehieb des Anwalts Biegler. Michael Wächter kokettiert mit leicht übergriffiger Arroganz, dass dieser Eid doch nicht mehr aktiv geschworen wird und er aufgrund von Verboten wie fruchtabtreibenden Zäpfchen oder der Blasensteinbehandlung schon längst veraltet ist. Also dürfen Ärzte beim Suizid helfen? Evelyne Gugolz gibt die Hausärztin Gärtners und zeigt körpersprachlich, wie sehr ihr der Todeswunsch der eigenen Patientin widerstrebt. Zum Tode helfen-müssen also sicherlich nicht. Konsequenterweise ist dann aber der Sterbewunsch eines jungen und gesunden, aber an Liebeskummer, leidender Mensch gleich zu behandeln wie der eines schwerkranken Alten. So können auch Krankheiten der Seele den Todeswunsch nach sich ziehen.
Die Inszenierung von Max Färberböck zoomt geschickt im Verlauf des Stücks von der einzelnen Person Gärtner immer weiter heraus: Was bedeutet das für uns als demokratische Gesellschaft, wenn der Tod zum Gegenstand einer individuellen Entscheidung wird? Werden unter dem Deckmantel der Selbstbestimmung nicht auch andere in Mitleidenschaft gezogen? Öffnet das nicht Tür und Tor für Missbrauch? Wem gehört denn eigentlich unser Leben? Bräche ein Damm, wenn selbstbestimmtes Sterben in Würde möglich würde, die Alten sanft abtreten könnten und in Folge, implizit so gedacht, als nutzloser Ballast dazu gedrängt werden könnten? Darf der Staat seine eigenen Bürger bevormunden? Ist sich jeder sein eigener Gott?
Charlotte Schwab spielt die pensionierte Architektin mit gebrochener Stimme. Ihre Position dafür umso klarer: „Nichts an meinem Wunsch zu sterben ist amoralisch oder krank.“ Die einzige Emotionalität des Abends wird ihrer Person erlaubt – dies gelingt mit einem bewundernswerten Minimalismus. Der Zuschauer versteht die Sinnlosigkeit des todessüchtigen Daseins. Doch ist dieser öffentlichkeitswirksame Kampf zum selbst gewählten Tod nicht schon absurderweise wieder als sinnstiftend anzusehen? Kollidiert da nicht der progressive Wunsch nach Selbstbestimmung mit der konservativen Begründung, sich als Frau über das Leben mit dem Mann definiert zu haben – und ohne dieses Abhängigkeitsverhältnis nur noch Leere zu verspüren?
Schirachs Text besteht primär aus geschliffenen, rationalen Rededuellen – eine Herausforderung für jeden Schauspieler. Ähnlich nüchtern ist das Bühnenbild. Volker Thiele stellt einen grauen Kasten auf die Vorderbühne des Residenztheaters – eine vermeintliche Insel der Vernunft in dem Sturm der existenzialistischen Absurdität. Allein die farbige Alltagskleidung trägt die abstrakt-juristische Atmosphäre ins genuin Menschliche. Dem Bischof, Michael Goldberg, wird im christlichen Abendland ein großer Raum zugedacht. Der Debatte über die Bibel, Augustinus, Thomas von Aquin hätte es nicht geschadet, anstelle von absurden Ad-Hominem-Vergleichen und Dammbruch-Argumenten („Was ist schon Moral aus katholisch-geistlicher Sicht, wenn die Kirche Kindesmissbrauch betreibt?“ über „Heute Sterbehilfe, morgen Euthanasie“) auch Positionen der Philosophie oder anderen Weltreligionen mit einzubeziehen.
Zum Ende spielt jeder einzelne Zuschauer eine zentrale Rolle: er wird zum höchsten Richter auserkoren. Eine liberale Regelung der Sterbehilfe – grün oder rot? Das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben – ja oder nein? Der menschliche Wille zur Macht über sich selbst wäre sicherlich sein letzter. Hin- und hergerissen, weil die Argumente beider Seiten überzeugend sind, beginnt ein nervöses Nesteln an den Karten. Zögerliche Blicke auf rot und grün – so wird das Leben der Dame ja in den eigenen Händen gehalten. Schlussendlich stellt sich die eigentliche Frage des Abends: Wer bin ich, mich als Richter über diese Thematik erheben zu dürfen?
Zur Premiere ist sich das Publikum des Münchener Residenztheaters jedoch einig: Eine Zweidrittelmehrheit stimmt mit grün – Frau Gärtner soll sterben dürfen. Dies, trotz pandemiebedingten leereren Rängen, unter Bravi und Applaus.
Kritik: Carolina Felberbaum