Wir schreiben den 3. Juli 2022, das Tollwood Sommerfestival ist nach der ungewollt berühmten Covid Zwangspause und pandemiekonformer Durchführung im letzten Jahr endlich wieder im vollen Ausmaß im Gange. Das beinhaltet natürlich auch die Musik-Arena, in der nun die norwegischen Traditionsmusiker von Wardruna zu Gast sind.
Bereits gegen 17 Uhr beginnt der Einlass und eine beachtliche Menge an Fans hat sich bereits vor dem Zelt in Stellung gebracht. Die Veranstaltung ist eine der wenigen vollbestuhlten der diesjährigen Tollwood-Ausgabe, und wer eine der ersten Reihen ergattern möchte, muss sich sputen. Um 18 Uhr sind bereits die ersten zwei Drittel der Plätze bis auf vereinzelte Ausnahmen belegt und das Musikprogramm startet mit Linda-Fay Hella & Dei Farne, die heute samt Mitmusikern eine Doppelschicht einlegt.
Mit progressiv angehauchter instrumentaler Untermalung in Form von zwei Percussionisten und Keyboard, gepaart mit ihrer imposanten Stimme und perfekt toniertem Background-Gesang, gibt es wenig Gruppen, die eine Veranstaltung dieser Art besser eröffnen hätten können. Die stimmliche Leistung erntet viel Applaus – zurecht –, auch solo sollte man Hella im derzeitigen Aufstieg nordischer Kultur und eben Musik im Auge behalten.
Um 19 Uhr dürfen dann Kalandra ihre Musik zum Besten geben, deren Sängerin heute ebenfalls eine Doppelschicht einlegt, denn auch sie ist Teil der Performance von Wardruna. Das erste und letzte Mal sind heute E-Gitarren auf der Bühne zu sehen, wenn auch nur selten im traditionellen Sinne genutzt. Das Intro der Band wird mit dem Bogen auf der Gitarre musikalisch untermalt. Wo bei Linda-Fay Hella noch progressivere Elemente zu hören waren, schlagen Kalandra eher einen massentauglicheren Weg ein, der sich irgendwo zwischen nordischem Folk und Pop befindet. Bereits nach dem ersten Song, unter großem Beifall, ist Sängerin Katrine Stenbekk überwältigt, gar zu Tränen gerührt. Mit dem Handtuch bewaffnet und regelmäßig die Augen schließend folgen ca. 40 Minuten melodischer Unterhaltung, bevor es zum Umbau der Bühne erst einmal still wird.
Erfreulicherweise hat das Tollwood einmal mehr im Vorfeld Papierfächer auf den Stühlen verteilt, die heute im Kampf gegen die 30+ Grad außerhalb des Zelts ordentlich zum Einsatz kommen. Ganz besonders dankbar dürften diese sein, die in Tuniken und Leder erschienen sind, zum Glück wurden in weiser Voraussicht zumindest (größtenteils) die Pelze zu Hause gelassen. Den Wechsel von nordischer Kluft auf ein T-Shirt vom Merchandise-Stand überlegen sich viele allerdings trotzdem zweimal, denn 40 (!) Euro ist ein ordentlicher Preis für T-Shirts, die Wardruna auf ihrer eigenen Website für fast die Hälfte anbieten, glücklicherweise der einzige Wermutstropfen des Abends.
Bereits zur Prime-Time um 20:15 Uhr beginnen Wardruna ihr 90-minütiges Programm vor einem gesteckt vollen Zelt. Glücklicherweise wurde die Belichtung und der Bühnenaufbau so konzipiert, dass die vereinzelten Sonnenstrahlen von außen der Atmosphäre keinen Abbruch tun – im Gegenteil – die Veranstaltung passt hervorragend hierher. Mit Hörnern, Lauten, Blechblasinstrumenten und vielem mehr im Instrumentalrepertoire liefert die norwegische Folk-Ambient Institution um Mastermind Einar Selvik eine eindrucksvolle Darbietung traditioneller Klänge, die keinem heute üblichem Musikschema folgen. Diese wird auch erstmals kurz vor der Zugabe für eine kurze Ansprache unterbrochen, bei der Selvik vor lauter Zurufen und Applaus kaum zu Wort kommt. Sichtlich gerührt folgt mit „Helvegen“ ein würdiger Abschluss eines großartigen Konzertes… zumindest hatten Wardruna sich das so gedacht. Nach etlichen erneuten Zugabe-Rufen aus dem Publikum bleibt Einar Selvik alleine mit Laute auf der Bühne und hängt noch ein „Ständchen“ an, bevor auch er unter erneut tosendem Applaus die Bühne verlässt.
Das Fazit fällt hier kurz aus, denn besser hätte dieser Abend wahrscheinlich nicht verlaufen können. Immer wieder wagt das Tollwood Festival experimentellere Buchungen in der Musik-Arena außerhalb des sonst üblichen „Pop“-Spektrums. Wardruna sind der lebende Beweis dafür, wie dringend notwendig es ist, diese Experimente über die nächsten Jahre fortzuführen, ja gar auszubauen. Mit kulturell anspruchsvoller Musik und der sichtbaren Diversität des Publikums trifft der heutige Abend den Geist des Tollwoods wie den Nagel auf den Kopf.
Bericht: Luka Schwarzlose