Er ist ein musikalisches Genie, ein Virtuose, der seinesgleichen sucht: Steven Wilson. Mit seinem aktuellen Album „To The Bone“, das wesentlich neue Wege in poppigere Gefilde einschlägt, beehrt er nun auch nach gut einem Jahr des Dauertourens auch die bayerische Landeshauptstadt, nämlich auf dem Tollwood Sommerfestival in der Musik-Arena am Sonntag, 15. Juli. Das zeitgleich zum Einlass stattfindende Finale der Fußball-WM wird zwar übertragen, interessiert die Fans aber reichlich wenig, wohl genauso wenig, wäre Deutschland im Finale gelandet. Im Gegenteil: etliche verschiedene Sprachen sind im Publikum zu hören, die Anspannung direkt zu spüren. Jeder, der den Weg hierher gefunden hat, ist nur dafür vor Ort und gut und gerne auch einige hundert Kilometer gefahren, um den Meister der Komposition zu bewundern.
Akribisch genau startet um 19:30 Uhr das Intro in der bestuhlten, aber nicht vollen Musik-Arena – und bereits hier kommt es zum ersten Gänsehaut-Moment des Abends. Rund um das Wort „Truth“, also Wahrheit, dreht sich die Intro-Projektion, die etliche Bilder mit dem jeweiligen passenden Begriff verbindet. Im zweiten Durchlauf bekommen die gleichen Bilder andere Begriffe zugeordnet und bereits hier muss man die bedrückende Cleverness dieses Twists erst einmal verdauen. Insgesamt sieht das dann SO aus – leider lässt sich das schwer erklären. Mit „Nowhere Now“ stürmt Wilson dann aber mit seinen vier Mitmusikern die Bühne und spielt unter großem Applaus los, dennoch eigenartiger Weise hinter der durchsichtigen Leinwand, auch noch während des Nachfolger-Songs „Pariah“. Das wird er im Laufe des Sets des Öfteren tun und dabei Projektionen auf Großfläche direkt vor ihm entstehen lassen, während er und Band diverse Lieder der Diskografie darbieten.
Die Diskografie – sie ist beim 51-Jährigen Wilson bereits schier unendlich. Dementsprechend vorsichtig pflegt er nur wenige Songs seiner Vorgänger-Band Porcupine Tree ein, weniger die größten Hits als eher die kleinen Raritäten, die er selbst wohl bevorzugt. Selbst eine Akustik-Version seines Projekts „Blackfield“ mit dem gleichnamigen Song landet als erste Zugabe in der umfangreichen Setlist. Das Hauptaugenmerk liegt selbstredend beim aktuellen Album und den Solo-Alben. Songs wie beispielsweise „Ancestral“ entfalten in ihrer langen Spielzeit auch absolut ihre Wirkung, das Publikum applaudiert und versucht im komplexen Takt mit zu klatschen, scheitert dann aber doch ein wenig an dieser Aufgabe. Einen Moment später wälzen sich Wilson und Bassist Nick Beggs bereits auf dem Boden, als sie sich abermals aufrichten und noch ein paar Riffs dem Publikum entgegenwerfen, bevor es in eine 15-minütige Pause geht. Bei so einem progressiven Dauerfeuer auch mehr als nötig.
Steven Wilson selbst präsentiert sich in einigen Ansagen mit trockenem, schwarzem Humor in bester britischer Manier. Einerseits erzählt er der jungen Generation, was eine E-Gitarre sei und sie leider derzeit in der Pop-Musik ausgestorben ist, andererseits macht er sich selbst ein wenig über seine arg poppige Richtung bei einigen Songs lustig, wie über das folgende „Permanating“. Selbst etliche Songwunsch-Zwischenrufe kontert er seelenruhig mit der Antwort, nach Setlist zu spielen, genauso wie er sich nicht aus der Ruhe bringen lässt, als bei „People Who Eat Darkness“ kurzerhand die hohe E-Seite seiner E-Gitarre reißt. Sicherlich keine bedeutende Seite – aber bei Prog-Musik dürfte jede Seite wichtig sein, ist ja genau Komplexität eines der Grundpfeiler dieses Genres.
Prince sei sein Vorbild der 80er-Jahre, sagt Wilson, in den 70er wäre David Bowie für ihn prägend gewesen, die 60er sind von The Beatles dominiert. „Heutzutage“ – und kurzzeitig wirkt er wirklich betrübt – „gibt es so etwas gar nicht mehr“. Mit Songs wie „Lazarus“, die in dieser Version an diesem Abend selten mitreißend einfühlsam klingen, ist Wilson auf dem besten Weg, doch ein großes und prägendes Idol einer Generation zu werden. Das in der zweiten Konzerthälfte durchgehend stehende Publikum feiert den Ausnahmekünstler in jedem Fall respektvoll und laut jubelnd, die filmenden Handys befinden sich unter einem Dutzend in der Anzahl, die Gespräche sind vollends eingestellt, die Ohren dafür durchgehend gespitzt. Was Besseres hätte Steven Wilson nicht passieren können – und dem Publikum hätte nichts Besseres als Steven Wilson passieren können. Kein Wunder also, dass er bis zum bitteren Ende spielt und um exakt 22 Uhr die Bühne verlässt – akribisch genau, so wie er nun einmal ist.
Bericht: Ludwig Stadler