Doppel-Premiere in den Kammerspielen: „Nora“ und „Die Freiheit einer Frau (Kritik)

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Nora oder ein Puppenheim – so wird das 1897 von Henrik Ibsen veröffentliche Stück in Deutschland häufig genannt. Stattdessen feiert an diesem 7. Oktober 2022 Nora und die Freiheit einer Frau im Schauspielhaus der Kammerspiele Premiere. Damit werden nicht nur zwei Stückvorlagen verbunden, sondern in Summe kommen gleich fünf Theatertexte zusammen und zwei Inszenierungen werden hintereinander präsentiert.

© Armin Smailovic

Besondern hervorzuheben ist dabei das Konzept, dass man den zweiten Teil des Abends, die zweite Inszenierung, Die Freiheit einer Frau nach dem Roman von Édouard Louis, zwangsweise in der Stimmung erlebt, in der die erste einen zurückgelassen hat. Zwischen beiden liegen 30 Minuten Umbaupause. Die bewusste Entscheidung, kein großes Konglomerat um das Thema ‚Frauen und Mutterbilder‘ zu kreieren, erschafft etwas ganz Neues. Auf eine viel intensivere Weise können die Inszenierungen verglichen werden, als wenn man beide getrennt an verschiedenen Abenden gesehen hätte. Dadurch werden Zusammenhänge klar, die sonst wohl nicht heraustreten würden; aber auch Unterschiede. Doch der Reihe nach; Felicitas Brucker fügt dem Text von Ibsen noch drei weitere Texte hinzu. Einen Prolog von Sivan Ben Yishai, einige Dialoge zwischen den Kindern Noras nach dem Ende der Handlung von Ivna Žic und einem Monolog anstelle der Tanzprobe vor dem Ballabend von Gerhild Steinbuch. Diese Texte ergänzen den Text von Ibsen. ‚Die Angst vor dem sozialen Abstieg und der Kampf um die eigene Position im gesellschaftlichen Ranking, der Druck Normen zu entsprechen, erfolgreiche Fassaden aufrecht zu erhalten – all diese (ziemlich) heutigen Empfindungen verbinden Ibsens Figuren‘, heißt es dazu im Programmheft.

In der Inszenierung liegt der Fokus ganz klar auf Noras (Katharina Bach) zunehmender Panik vor den Konsequenzen, die mit der Enthüllung einhergehen, dass Sie vor Jahren eine Unterschrift gefälscht hat. Diese wird vom Bühnenbild von Viva Schudt verstärkt, über den die Darstellerinnen wahlweise hinabrutschen, hinauskriechen oder darauf herumlaufen, sich schließlich sogar ganz nach oben neigt. Die Stimmung der reichlich zwei Stunden andauernden ersten Hälfte des Abends wirkt sehr atmosphärisch und vereinnahmend. Schließlich geht es bei Nora, aus heutiger Sicht rezipiert, auch weniger um das, was auf Sachebene passiert (eine Frau nimmt auf eigene Faust einen Kredit auf, fälscht für die Bürgschaft aber die Unterschrift des Vaters und zahlt die Schulden selbst zurück, um ihrem Mann mit einer Kur das Leben zu retten), sondern um alles andere.

© Armin Smailovic

Eine Frau lebt mit einem Geheimnis. Eine Frau ist sich im Klaren, dass ihr hoher Lebensstandard und das selbstverständliche Selbstbewusstsein des Mannes, alles selbst erreicht zu haben, so dünn ist, wie das Papier jenes Schuldscheins, den es so dringend zurück zu erlangen gilt. Eine Frau, die sich ihrer ganzen kleinen schönen Welt so sicher ist. Als Bote aus der Ferne im naturalistischen Sinne taucht die längst vergessene Jugendfreundin Christine (Svetlana Belesova) auf und lässt Nora sehen, wie ihr Leben auch aussehen könnte. Alleine, am Existenzminimum kratzend, verzweifelt auf der Suche nach einer Arbeit. Diese Stimmung überträgt sich auf Nora. Auch die sucht verzweifelt nach einem Ausweg. Könnte nicht der Freund der Familie, der sie verehrt, einspringen für die letzte Rate? Oder könnte Christine den zudringlichen Anwalt besänftigen? Diese wechselnden Gefühle, Hoffnungen, Panikattacken spiegelt Katharina Bach unglaublich mitreisend durch eine panische, aufgekratzt angespannte Nora, die fast verrückt wird in ihrer Klemme. Die absolute Klimax erreicht die Inszenierung, indem Nora, eigentlich um den Ehemann abzulenken, ihren Tanz für den Ball übt. In dieser Szene trennt eine Gaze Bühnenraum und Bühnenrand und Bach liefert eine hochenergetische Performance aus Gesang, Monolog und Geschrei ab, sie schreit, spricht, singt mit einer unfassbaren Energie heraus, was schier eigentlich gerade passiert. Die darauffolgende Szene des Wiedersehens von Christine und Krogstad (Thomas Schmauser), in der beide beschließen, sich doch nicht für Nora einzusetzen, sondern die auflaufen zu lassen, um sie so zu zwingen, sich mit ihrer eigenen Situation auseinanderzusetzen, steht in Spannungen und Aktion nur um wenig nach. Dergleichen Einschübe sorgen aus dramaturgischer Sicht dafür, dass die Stimmung zwar beklemmend bleibt, aber dieser Beklemmung nicht die Spannung des Abends zum Opfer fällt. Die zwei Stunden wirken so zu keinem Zeitpunkt gezogen.

Zur Kollage aus verschiedenen Texten passt auch die Inszenierung. Zwar fügen sich alle Teile harmonisch zusammen, stehen aber zugleich zu jedem Zeitpunkt für sich. Ebenso wird auch die Figurenarbeit in dieser Inszenierung gehandhabt; jede Figur verfolgt primär ihre eigenen Interessen. Die Inszenierung setzt dabei sowohl auf die ästhetische Unterstützung des Theatertextes durch Kostüm, Musik, Licht und Bühne, lässt aber zugleich ein Gesamtkunstwerk entstehen, das den Zuschauer in seinen Bann zieht. Mithin gestaltet sich das Werk als eine Mischform zwischen klassischer Ibsen-Inszenierung und zeitgenössischem, performativ angehauchtem Konglomerat verschiedener, auf dem Urtext aufbauender, neuer Theatertexte. Die internationale Zusammensetzung der Autor*innen trägt extrem zur Bereicherung bei. Dafür, dass Nora aus heutiger Perzeption häufig als fortschrittliches, emanzipatorisches Stück mit einer Hauptfigur, die für Unabhängigkeit und Gleichberechtigung eintritt, gehandelt wird, kommt die Szene der Selbstermächtigung, in welcher Nora sich schlussendlich entscheidet, ihren Mann nach Jahren des gemeinsamen Lebens und der gemeinsamen Familie, der gemeinsamen Sicherheit, zu verlassen, in der Inszenierung sehr kurz. Eine eher intellektuelle Abhandlung handelt innerhalb weniger Minuten die Spannung ab, die zuvor über fast zwei Stunden aufgebaut wurde.

© Armin Smailovic

Nach der halbstündlichen Pause geht es für die Darsteller direkt weiter: Die Freiheit einer Frau wird in komplett anderem Setting abgehandelt. Hier kann man vorwegnehmen: die Inszenierung dient ausschließlich dazu, den bereits sehr starken und intensiven Theatertext zu unterstützen! Der Bühnenraum (Viva Schudt) ist durch die vierte Wand abgegrenzt und die DarstellerInnen halten sich ausschließlich vor einer weißen Barriere mit zahlreichen Glasflaschen auf. Die Rollenzuweisung ist im Gegensatz zur vorangegangenen Inszenierung nicht auf die Schauspieler*innen festgelegt. Der autobiografische Text verhandelt das Verhältnis des französischen Autoren Édouard Louis zu seiner Mutter. Geschichten aus der Kindheit, Rezeption aus heutiger Sicht und einzelne Erinnerungen detaillierter Situationen werden zueinander in Kontext gesetzt. Die unglückliche Mutter hatte die frühe Schwangerschaft, die vielen Kinder, die Verantwortung, die Aussichtslosigkeit, ohne Ausbildung eine Familie durchbringen zu müssen, bereut, die verschiedenen Männer in ihrem Leben, die allesamt ebenfalls dem Alkoholismus anheimfallen. In diesem Text mischen sich Vorwürfe mit Verständnis, mit Sorge, mit Entrüstung, mit Trauer, mit Aufarbeitung. Die meiste Zeit sprechen die Darsteller*innen den Text, wie eine inszenierte Lesung, abwechselnd. Ab und an zerschlagen die Flaschen an der Bühnenwand, wird die Szene durch Musik, durch Tanzszenen, durch ausgelassene Stimmung unterbrochen. Eine dramaturgisch essenzielle Entscheidung, um das Publikum nach vorangegangenen drei Stunden Theaterabend in seiner Konzentration auf dem Text nicht zu überfordern. Daraus entsteht ein sehr tiefgründiger Abend, der lange nachklingen und im Zuschauer viele Gedanken auslösen kann.

Nora und die Freiheit einer Frau ist ein intensives Gesamtkunstwerk. Beide Inszenierungen könnten getrennt voneinander aufgeführt werden. Sie sind nicht voneinander abhängig, aber sie bedienen sich gegenseitig. Sie geben den Zuschauer*innen sehr, sehr viel zum Nachdenken mit auf den Weg. Kein lockerer Abend, nichts, wo man sich einfach mal reinsetzen und berieseln lassen kann. Doch sie wirken nach, sie lösen Gefühle aus, sie decken sehr viele Aspekte von Beziehungen, von Frau, Ehefrau, Mutterschaft ab. Sie sprechen über Emanzipation, Freiheit und soziale Determinismus.

Kritik: Jana Taendler