Künstlerische Selbsterneuerung geht oft nicht besonders gut aus: Das Neue, das nur versucht wird, um Wiederholungsfehler zu vermeiden und eben darum als uninspirierte Selbstbezogenheit versickert. Auch Leprous haben mit ihrem neuen Album „Pitfalls“ für sie ungewöhnliche Töne angeschlagen. Doch live, am 19. November im Freiheiz, beweist die Band alles andere als erfolgsverwöhnten Wir-können-auch-anders-Geist, sondern zeigt sich so konzentriert und integer wie kaum jemals zuvor.
Den Anfang dieses Prog-Rock/Metal-Abends machen die eigentlich recht un-proggigen Port Noir. Das Trio, ebenfalls aus Norwegen stammend, transportiert eine polierte Optik und gibt poppigen Alternative Rock zum Besten. Das ist angenehm und eingängig, insgesamt aber wirken Port Noir etwas zu streberhaft, um einen substanziellen Eindruck zu hinterlassen.
Streben müssen The Ocean nicht mehr. Die deutsch-schweizerische Post Metal-Gruppe ist längst eine international etablierte Größe und mit Abstand die härteste Band dieses Abends, obwohl eine eher gemäßigte Songauswahl getroffen wurde. Nach fixen Umbaumaßnahmen entern The Ocean die Bühne vor dem inzwischen zwar ordentlich, aber mit noch deutlich Luft nach oben gefüllten Freiheiz. Doch das und die Tatsache, dass (gefühlt!) ein sehr großer Teil des Publikums aus Herren mittleren Alters besteht, die mehr Wert auf guten Klang und schweres Vinyl legen, denn auf Ausgelassenheit und Band-Publikums-Interaktion, hält Sänger Loïc Rossetti nicht vom Crowdsurfen ab. Und es gelingt: Auf hochgereckten Händen kniend brüllt er sich durch „Bathyalpelagic II: The Wish in Dreams“.
Guten Klang gab es übrigens auch: Allein bei The Ocean, die sich um halb zehn mit dem unvermeidlichen „Firmament“ verabschieden, hätte es glatt noch eine Ecke ruppiger zugehen dürfen.
Setlist: Permian: The Great Dying / Mesopelagic: Into the Uncanny / Silurian: Age of Sea Scorpions / Bathyalpelagic I: Impasses / Bathyalpelagic II: The Wish in Dreams / Devonian: Nascent / Firmament
Dass Leprous mit „Pitfalls“ keineswegs auf taube Ohren gestoßen sind, beweist schon der große Jubel, mit dem das markante Intro der Single „Below“ begrüßt wird.
Was folgt ist eine Rundtour durch die (fast) gesamte Diskographie der Band, mit natürlichem Fokus auf dem aktuellen Album, jedoch derart sinnig gruppiert, dass sich keine Brüche ergeben. Dazu gibt es überlebensgroße Projektionen auf der Leinwand im Rücken der Band, doch mit den meist eher statischen, unaufgeregten Impressionen, die dort gezeigt werden, gelingt es (was selten genug ist), dass das Videomaterial nicht vom Hauptgeschehen ablenkt. Neu ist nicht nur, dass Gitarrist Tor Suhrke z.B. für „Observe the Train“ auch mal zur Akustikgitarre greift, sondern auch, dass Einar Solberg, der sonst so verschwiegene Frontmann und Sänger, sich um Publikumskommunikation bemüht. „You didn’t come here to hear a melancholic band tell bad jokes?“ – Nicht direkt, aber angenehm ist es doch: Leprous, die in der Vergangenheit oftmals wie eine verstockte, spannungsvolle Kooperation von Einzelkämpfern wirkten, ein bisschen gelöster, organischer zu erleben. Solberg entschuldigt sich im Voraus für seine angeschlagene Stimme, was angesichts des noch vor der Band liegenden, zweiwöchigen Nonstop-Tourplans Mitleid erweckt, und andererseits nur selten hörbar ist. Der Sänger verblüfft nach wie vor mit seinen himmelhohen Gesangslinien, der elementaren Zutat in den euphorisierenden Refrains, für die Leprous nicht zu unrecht gerühmt sind.
Schön ist auch, dass das Massive Attack-Cover „Angel“ es in die Setlist geschafft hat; ohnehin ist der Einfluss aus der Ecke Portis-/Radiohead im neueren Material der Band nicht zu überhören. Als fulminantes und vollkommen gelungenes Finale sind aber keine ruhigen Töne angesetzt: einen besseren Rausschmeißer als „The Sky Is Red“ mit seinem dröhnenden repetitiven Ende hätte man sich nicht aussuchen können.
Setlist: Below / I Lose Hope / Acquired Taste / Bonneville / The Cloak / Angel (Massive Attack cover) / The Price / Observe the Train / Alleviate / From the Flame / Distant Bells / Third Law / The Sky Is Red
Bericht: Tobias Jehle