Fesseln und kurzweilig, klassisch und zeitgenössisch – „Die Brüder Karamasow“ im Volkstheater (Bericht)

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Zum Jahresende gibt sich VolkstheaterIndendant Christian Stückl noch einmal die Ehre als Regisseur mit einem absoluten Klassiker. Fjodor M. Dostojewskis ‚Die Brüder Karamasow‘ wird in einer auf reichlich zwei Stunden andauernden Version mit siebenköpfigem Ensemble zum Besten gegeben. Dabei zeigt Stückl, was er kann und lässt zugleich die Darsteller*innen mit viel Individualität ihre Figuren erkunden. Die in vier Bücher unterteilte Romanhandlung ist im Original ein ausführlicher Wälzer mit vielen unterschiedlichen Figuren und Handlungssträngen. In der Inszenierung im Volkstheater wird allerdings ein einzelner Aspekt heraus gegriffen: Die Feden, Streitigkeiten und Intrigen der Familie untereinander und die daraus resultierenden, existentiellen Fragen. Stückl widmet sich geduldig jeder einzelnen Figur.

© Arno Declair

Der Abend beginnt mit einer Familienzusammenkunft, bei der, wie in einem guten Roman, erst einmal vorsichtig herangetastet wird, mit wem man es hier zu tun bekommt. Man trifft Vater Fjodor (Pascal Fligg), die Söhne Aljoscha (Lorenz Hochhuth) und Iwan (Jakob Immervoll), Diener Smerdjakow (Janek Maurisch) und die beiden Frauen dieser Inszenierung, die verführerische Gruschenka (Ruth Bohsung) und die zugeknöpfte Katerina Iwanowa (Pola Jane O’Mara). Der besoffene Familienpatriarch Fjodor Karamasow  wird zugleich von den Söhnen verehrt, gefürchtet und umschwärmt. Wie viele Widersprüche in der Figur stecken, schafft Fligg bereits in der ersten Szene aufzuzeigen, indem er Fjodor in einem schnellen Wechsel verunsichert, zornig, bestimmt oder flehend spielt. Dass diese schnellen Wechseln nicht unnatürlich und als Overacting beim Publikum ankommen, ist bemerkenswert und wird von Fligg ausgezeichnet gemeistert. Im Verhältnis zu ihm stehen der vernunftgetriebene Iwan und der seinen christlichen Werten verpflichtete Aljoscha. Bereits diese Konstellation bietet genug Potential für Grundsatzdebatten und hitzige Dialoge. Richtig ins Rollen kommt die Handlung jedoch, als der älteste Sohn Dimitri (Anton Nürnberg) aufs Parkett tritt. Aufs Parkett im übertragenen Sinne, denn die klassische Theaterbühne wird durch eine geschwungene Plattform angelöst, die in der Mitte des Raumes steht; das Publikum ist um die Bühne von Stefan Hageneier  herum platziert und die Szenerie wird von einem einzelnen, über der Bühne schwebenden Rahmen erleuchtet.

© Arno Declair

Bühne und Beleuchtung allein haben eine so starke ästhetische Wirkung, dass sie wie Teil einer Installation im Museum scheinen. Zugleich vermitteln sie die Symbolik eines Brennglases auf diese so verworrenen Familienbande. Außerdem ergibt das minimalistische Bühnenbild einen starken Kontrast zum Kostümbild, ebenfalls von Stefan Hageneier. Mit einer Ästhetik der Verwahrlosung, den langen Haaren der Männer, den Fäden ziehenden Strickjacken wird einerseits deutlich, dass diese Leute nicht reich sind; Geld ist etwas, was hier wirklich Streit auslösen kann. Andererseits kann das Kostüm auch als Zeichen für den kaputten Seelenzustand der Figuren gesehen werden. Oder doch als Symbolik für eine vor langer Zeit geschriebene Geschichte, die im Jahre 2022 buchstäblich in neues Licht gerückt wird? Diese komplexen Ebenen der Interpretation ziehen sich in der Inszenierung durch, inhaltlich wie gestalterisch. Die von allen verehrte Gruschenka kommt so mit einem leoparden-gemusterten Overall daher. Angezogen wie ein Plüschtier, das von Mann zu Mann gereicht wird, zugleich mit den High Heels einer Domina, die die Gefühle aller Menschen um sie herum kontrolliert.

Auch die Dynamik wischen den Figuren ist auffällig. Nachdem alle zu Beginn einmal etabliert werden, treten sie einzeln, meist in kleinen Gruppen auf. Aljoschas Rolle als Vermittler und Streitschlichter aber zugleich als von allen getretener Gepeinigter wird aus dem Original übernommen. In seiner Gegenwart neigen die Mensch dazu, sich zu offenbaren. Dimirti gesteht seine Lasterhaftigkeit, Iwan seine Liebe zur Verlobten des älteren Bruders. Besonders spannungsvoll ist die Szene zwischen Gruschenka und Katerina, hier baut sich eine intensive Atmosphäre der intriganten, berechnenden gegenseitigen Umkreisung auf, in der keine Frau der anderen zu viel preisgeben, sie aber zugleich für die eigenen Zwecke lenken will. Zwischen den Stühlen sitzt mal wieder: Aljoscha.

Dieser Abend bietet Unterhaltung, Symbolik, Tiefgang und Theaterhandwerk vom Besten! Eine absolute Empfehlung, die man sich auch mehrfach ansehen kann!

Kritik: Jana Taendler