Schönere Rahmenbedingungen könnte man sich nicht wünschen für das Saint Helena Festival, das heute, am 16. Juni 2018, in den beiden Feierwerk-Locations Kranhalle und Hansa 39 stattfindet: Angenehmstes Sonnenwetter, doch lange nicht heiß genug, um die Innenräume in sauerstoffarme Schwitzkästen zu verwandeln. Zudem muss Helena dieses Jahr nicht den Verlust eines oder mehrerer ihrer Kinder beweinen – keine der Bands musste kurzfristig absagen, ein Auftritt reiht sich reibungs- und übergangslos an den nächsten, besser kann es kaum laufen.
Um 14 Uhr ist Einlass, um Viertel vor Drei machen die Post-Metaller Cranial den Anfang. Die Würzburger überzeugen nicht nur mit ausgefallenem Merch (Duschgel – für den sludgigen Start in den Tag?) sondern auch musikalisch mit einem knackigen Set, das genügend Besucher anzieht, um die Kranhalle fast zu überfüllen. Ein schlagendes Argument für frühes Erscheinen also.
Ein wenig hat man den Eindruck, Cranial und Fouco Fatuo hätten besser Plätze getauscht: Denn während erstere wie gesagt dichte Reihen an Fans und Interessierten anzogen, ist das Publikum der italienischen Funeral Doomer, die nach Cranial – es gibt keine Überschneidungen und jeder Band wird eine Stunde Spielzeit zugestanden – im größeren Hansa 39 spielen, weniger zahlreich. Doch andererseits vergönnt man es der Band, die sich äußerlich äußerst stimmig mit Schädeln und Räucherwerk präsentiert, vom druckvollen und präzisen Sound im Hansa 39 zu profitieren, denn ihr Auftritt überzeugt auf ganzer Linie. Besonders Milo Angeloni an Gitarre und Mikrophon liefert eine beachtliche Leistung. So entstammt denn auch der Beifall, den Fuoco Fatuo ernten, zwar geradezu ungerecht wenigen, dafür aber umso begeisterteren Händen.
Wo Fuoco Fatuo auf ein zwar unverkrampftes, doch recht elaboriertes Äußeres Wert legten, geben sich die Fürther von Obelyskkh deutlich legerer. Das Stoner/Doom-Trio gibt sich engagiert und sympathisch und weiß zu unterhalten. Hier kommt besonders stark zum Ausdruck, was auch die meisten anderen Bands auszeichnet: Man nimmt das Musikspielen wichtiger als sich selbst.
Freunde der langsamen Gangart kommen vor allem in der ersten Festivalhälfte auf ihre Kosten und können sich nach Obelyskkh noch mit Dark Buddha Rising, der obskuren Drone/Sludge/Doom-Truppe aus dem hohen (finnischen) Norden vergnügen – wobei man, um in diesen Genuss zu kommen, nicht einmal im Hansa 39 anwesend sein muss: So laut spielt die Band, dass man sich auch gemütlich mit einem Wrap aus den kleinen, aber feinen Imbissstand auf den Grünstreifen oder die in genügender Anzahl vorhandenen Bierbänke setzen kann und noch immer einen guten Eindruck von dem gewinnt, was drinnen gerade vor sich geht.
Was für die Sitzgelegenheiten gilt, gilt leider nicht für das Essen: Schon am nicht allzu späten Abend ist der Essensstand ausverkauft und hungrige Mäuler müssen sich an eine nahe Pizzeria wenden. Dies ist jedoch tatsächlich der einzige organisatorische – nein, eigentlich der insgesamt einzige Kritikpunkt an der heiligen Helena.
Nach Rise and Fall des dunklen Buddha müssen sich die Geschwindigkeitsliebhaber noch etwas weiter gedulden: Denn mit Sangre de Muerdago gibt es nun etwas ganz anderes zu hören: Galizischer Neofolk, Querflöte, Harfe, Akustikgitarre, Drehleier und Schlüsselfidel, mehrstimmiger Gesang. Zunächst hat es den Anschein, als würde die Band um den sympathischen Pablo C. Ursusson etwas untergehen, im lauten Getriebe rund um die Kranhalle. Doch nach und nach entwickelt sich dieser Auftritt zu einem der schönsten Momente des Festivals: Die Kranhalle füllt sich, die Menschen setzen sich auf den Boden und lauschen still den schwermütigen Songs von der Band, deren Mitglieder, obschon sie heute unter anderen Vorzeichen hier sind, mit der hier versammelten Szene keineswegs unbekannt sind: Ursusson spielt bei den Leipziger Black Metallern Antlers, während Georg Brönner sich bei seinem Ein-Mann-DSBM-Projekt ColdWorld austobt, wenn er nicht gerade für Sangre de Muerdago die Nyckelharpa streicht.
Wie um den Übergang vom leisen Folk, bei dem man nun wirklich keinen Gehörschutz brauchte, zum extremen Black Metal/Grindcore von The Secret weniger heftig ausfallen zu lassen, leiten die Italiener, die nach sechs Jahren heuer eine neue EP herausbringen, ihr Set mit einem langen Drone-Intro ein, ehe sich Sänger Marco Coslovich seines Holzfällerhemds entledigt und die Band ein starkes Set vor zahlenmäßig starkem Publikum darbietet – und sich danach als freundliches Verabschiedungskomitee am Eingang postiert.
Was Popularität und Erfolg angeht, ist es ein ziemlicher Abstand, der Converge von den anderen Bands des diesjährigen Saint Helena trennt, was sich auch an der T-Shirt-Verteilung ablesen lässt. So ist es in jeder Hinsicht eine gute Entscheidung, die Türen zum Hansa 39 bis 22 Uhr geschlossen zu halten. Dadurch haben Converge nicht nur Gelegenheit, in Ruhe ihren Soundcheck abzuhalten, sondern auch erspart man den österreichischen Black Metallern von Kringa, dass sich ihr Publikum auf der Suche nach guten Plätzen vorzeitig auflöst. Nicht, dass die Band nicht zu fesseln verstünde: Kringa bilden keine Ausnahme von der Regel, dass heute nie das Gefühl von Gleichklang und fehlender Abwechslung aufkommt. Die Linzer geben ein urwüchsiges, nonkonformistisches Bild ab: Zu sehen gibt es Corpsepaint, Voodoo Jürgens-Gedächtnis-Frisur, ausholende bis ausfallende Bewegung, besessen vom Dämon der Kringas grimmen, 90er-reminiszenten Black Metal mit starker Vokal-Doppelspitze innewohnt, und: einen großen Holzphallus…
Nun aber weg von österreichischen Fruchbarkeitssymbolen, hin zu amerikanischem Metalcore, zu Converge! Was das Quartett in einer guten Stunde Spielzeit abliefert, ist eine lupenreine, hochglänzende Headlinershow. Bei massiven und messerscharfen Soundverhältnissen macht die seit fast 30 Jahren aktive Institution keine Gefangenen. Die dreifache Scream&Shout-Gewalt Bannon-Ballou-Newton kann sich nicht nur auf sich selbst, das aufs Genauste abgestimmte spielerische Können, sondern auch auf ein enthusiastisches Publikum verlassen, das von Minute eins an eifrig mosht und textsicher mitsingt. Selten sind die Gelegenheiten, bei denen Converge etwas Ruhe einkehren lassen, so beispielsweise mit dem langsamen, emotionalen „The Dusk in Us“ – aber emotional geladen ist eigentlich jeder Song, der mit so viel Hingabe dargeboten und rezipiert wird, auch wenn es sich dabei um härtere Brocken wie „I Can Tell You about Pain“ oder „You Fail Me“ handelt.
Nach einer solchen Entladung – und nach einem langen, musikerfüllten Nachmittag – ist, möchte man meinen, die Luft raus. Gleiches scheint auch Gabrial Dubko von Implore zu befürchten, der Black/Death/Grind/Crust-Truppe, die das Saint Helena beendet: „Ihr seid müde, was?“, merkt der Argentinienstämmige an, als die Kranhalle zunächst noch recht leer ist. Doch die unkomplizierte, rigorose Art, mit der Implore ihr Set durchdrücken, ist zu dieser Stunde genau das Richtige: Mehr und mehr mehrt sich das Publikum, angezogen von der frischen, die Müdigkeit vertreibenden Rasanz dieser beinharten und dabei fast bescheiden auftretenden Band. Somit: Auch in puncto Running Order nichts zu beanstanden!
Fazit: Das Saint Helena bewährt sich als sinnvoll organisiertes, von äußerst angenehmer Stimmung erfülltes Ein-Tages-Festival, das sich genau richtig zwischen Zuviel und Zuwenig positioniert: Bis hoffentlich nächstes Jahr!