Als wir wenige Minuten vor Einlass das Zenith erreichen, steht die Schlange bereits bis weit zum Parkplatz. Kein Wunder, denn es ist Samstagabend, 7. April 2018, und das Konzert, das auf dem Plan steht, ist nicht nur irgendeines, sondern ein absoluter Pflicht-Termin für tausende Fans: Jennifer Rostock. Die Wahl-Berliner sind derzeit auf Best-Of-Tournee zum zehnjährigen Bandjubiläum, bevor sie auf unbestimmte Zeit in Pause gehen. Kein Wunder also, dass rund 5000 Fans ihren Weg in Münchens zweitgrößte Konzerthalle finden und damit der Band ihr bis dato größtes Hallenkonzert überhaupt bescheren, was Frontfrau Jennifer Weist später auch noch überglücklich der Menge mitteilen wird. Dieser Moment ist beim Einlass aber noch weit entfernt, als die ersten Reihen, welche garantiert schon mehrere Stunden im doch recht schönen Wetter gewartet haben, wie verrückt losstürmen, um die begehrten Plätze der ersten Reihen zu erreichen. Ein so enthusiastischer und überzeugter Einlass ist selten – die Zeichen sind bestens gestellt.
Als um 19:50 Uhr das Licht erlischt und ein Intro aus den Boxen ertönt, gucken etliche Fans etwas verwirrt um sich herum, da es doch noch zu früh für den Konzertbeginn ist. Die ortsansässigen Blackout Problems, ihres Zeichens Münchner Durchstarter-Band im Indie-Punkrock, interessiert das reichlich wenig und legen kurzerhand mit dem Opener ihres kommenden Albums „Kaos“, „How Are You Doing“, los, der es dementsprechend in sich hat und womöglich müde Personen in Windeseile wach bekommt. Die Band um Frontmann Mario legt sich wahnsinnig ins Zeug und zeigt glaubhaft, dass es für sie als Ortsansässige eine Ehre ist, im Zenith spielen zu können – für diesen Anlass haben sie fast nur Songs aus ihrem kommenden Werk ausgewählt, mit dem sie am 1.12. im Technikum spielen, wie sie mehrfach hinweisen. Trotz der spürbaren Bühnenenergie, den vielen netten Aktionen zum Mitmachen und der bisher noch nie so ausgeprägt sichtbaren Passion für die eigene Musik, sind die Songs teilweise zu wenig eigenständig, am Beispiel des Titeltracks „Kaos“ auch einfach zu belanglos, um sich im Hirn zu verankern. Nichtsdestotrotz ein sowohl mehr als passender als auch mitreißender Support, der um 20:30 Uhr die Bühne verlässt, um für den Headliner Platz zu machen.
Setlist: How Are You Doing / Queen / How Should I Know / Kaos / Difference / Off & On / The City Won’t Sleep Tonight
21 Uhr, das Licht verabschiedet sich erneut, dafür erstrahlt auf dem Vorhang eine angebeamte 2018 – und die zählt, gespickt mit Video-Ausschnitten des jeweiligen Jahres, immer weiter runter, bis zum Jahr 2008; passend dazu fällt die Leinwand und „Kopf oder Zahl“ eröffnet die musikalische Zeitreise von Jennifer Rostock. Tatsächlich wird der ganze Abend wie ein Zeitraffer konzipiert: beginnend bei den ersten Alben wird sich (fast) komplett chronologisch durch die Diskographie gespielt, in den Zugaben dann natürlich beim aktuellen „Worst Of“-Album mündend, welches zahlreiche unveröffentlichte Song-Baustellen beinhaltet, die sich über die Jahre aufgetürmt haben, aber dann doch endlich mal veröffentlicht gehörten. Während also die letzten Songs doch eher recht ruhig das Konzert beenden, macht das ältere Liedgut ohne Pause ordentlich „Feuer“, nur kurz unterbrochen mit zwei Unplugged-Liedern, nämlich „Irgendwo anders“ und „Ich kann nicht mehr“. Selbst das sonst eher ruhige „Schlaflos“ entfesselt live ein kräftiges Sound-Gewand.
„10 Jahre Jennifer Rostock“ ist der Anlass dieser Tour – zehn Jahre lang bespielen die ursprünglich aus Usedom stammenden Berliner immer wieder auch die bayerische Landeshauptstadt, immer wieder klettern sie eine Location-Größe nach oben. Feierwerk 2008, Backstage 2009 bis 2013, zuletzt auf dem Tollwood und 2017 in der restlos ausverkauften TonHalle. Mit insgesamt 5000 Besuchern, erstmals im Zenith, haben sie die Besucherzahl fast verdoppelt – innerhalb eines Jahres. Dementsprechend groß ist auch die Bühnenproduktion, die mal nicht mit entweder Luft- oder Feuersäulen aufwartet, sondern kurzerhand einfach beides bietet. Die Licht-Konstruktion, die einen simplen Banner mehr als gerechtfertigt ersetzt, ist immer auf den Punkt und mehr als beeindruckend, vor allem in Liedern wie „Es war nicht alles schlecht“, die zusätzlich zur Musik alles rausfeuern, was auf der Bühne möglich ist. Bereits ziemlich zu Beginn ein großer Gänsehaut-Moment.
Jennifer Rostock ist selbstverständlich eine Band, die seit einem Jahrzehnt gemeinsam tourt und gemeinsam musiziert, nichtsdestotrotz ist, vor allem die letzten Jahre, Frontsängerin und Aushängeschild Jennifer Weist noch einmal ordentlich in den Fokus gerutscht. Kein Wunder, denn keine Frau hat im deutschen (Rock-)Musikgeschäft mehr Ausstrahlung, mehr Stimmvolumen und vor allem mehr Hörerschaft – das liegt einerseits daran, dass Frauen am Mikro, vor allem im Rockgeschäft, leider immer noch massiv in der Unterzahl sind, aber andererseits natürlich auch an der ultimativen Hymne für Frauenpower und Gleichberechtigung, quasi dem Mekka des Feminismus – „Hengstin“. So überrascht es auch wenig, dass sicher 80% des Publikums weiblich ist, zusätzlich auch ein Großteil aus der Homosexuellen-Szene. Die offene und ehrliche, auch politisch absolut aufrichtig gegen rechts gerichtete Einstellung der Band (subjektiver Einschub: die wir als „Kultur in München“ absolut unterstützen) kommt vielen Minderheiten, neben der packenden Musik, absolut zugute. Für viele ist Sängerin Weist auch ein Sprachrohr, der Song „Ein Schmerz und eine Kehle“ eine Hymne für Gleichberechtigung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen und gegen Unterscheidungen – denn was zur Hölle lässt denn einen Menschen irgendwo schlechter oder auch nur anders sein, allein aufgrund der sexuellen Orientierung? Die Ausgrenzung dieser Menschen wegen einer einzigen Charakter-Eigenschaft, die prinzipiell absolut keinen Einfluss auf Persönlichkeit und definitiv keinen auf Menschlichkeit hat, ist eine Schande und diffamiert nicht die angegriffene Person, sondern nur die angreifende. Und auch wenn Weist „Nazis raus, Schwanz rein“ in ihrer typischen, vielleicht manchmal fast unter die Gürtellinie gehenden, aber niemals unsympathischen Art ruft und das Publikum mitbrüllt, bleibt die Message der Gleichheit und Gemeinsamkeit aller Menschen und Gruppierungen an diesem Abend etwas größer, als um 22:55 Uhr das Licht wieder angeht. Das ist nicht nur das größte , sondern vielleicht sogar das beste Konzert der Band gewesen, aber immerhin das Beste in München!
Aber eine kleine Kleinigkeit liegt da doch noch auf dem Herzen. Die erstmals eingebauten Kostümwechsel von Frontfrau Jennifer stören kaum, sondern bringen immer wieder einen kleinen frischen Wind in das Konzert, nur an einer Stelle ärgert es. Als mitten im Lied „Wir sind alle nicht von hier“ nach dem ersten Refrain die Sängerin die Bühne verlässt, wird anstatt der zweiten Strophe die Main-Melodie instrumental weitergespielt, denn klar, gerade findet der Outfitwechsel statt. Dass damit aber die schöne Strophe mit dem wunderbaren CSU-Seitenhieb auf Söder, Seehofer und Scheurer, gerade in München, verloren geht, das ist nun doch ein wenig schade. Und da München zwar ein rotes und alternatives Fleckchen ist, aber in Bayern insgesamt sich wohl nichts ändern wird: in ein paar Jahren beim nächsten Mal dann bitte spielen, okay? 😉
Setlist: Kopf oder Zahl / Feuer / Himalaya / Du willst mir an die Wäsche / Es tut wieder weh / Irgendwo anders (unplugged) / Es war nicht alles schlecht (mit Nico Webers) / Mein Mikrofon / Der Kapitän / Ich kann nicht mehr / Ein Schmerz und eine Kehle / K.B.A.G. / Schlaflos / Wir sind alle nicht von hier / Kaleidoskop (mit Nico Webers) / Irgendwas ist immer / Deiche / Wir waren hier – Zugaben 1: Hengstin / Alles cool / Haarspray – Zugabe 2: Die guten alten Zeiten
Bericht: Ludwig Stadler