Seit dem Großveranstaltungsverbot am 11. März 2020 ist ein sofortiger Stillstand in die Live-Branche eingekehrt – die Konzertlocations und Theater bleiben leer, die Open Air-Plätze liegen brach. Eine Änderung ist nicht so wirklich in Sicht, Übergangskonzepte klingen mehr fragwürdig als sinnvoll und auch viel zu wenig nach Übergang. All das stellt einem natürlich vor die relevante Frage: quo vadis, Kulturbranche?
Das Wort „Branche“ ist dabei ganz bewusst gewählt, denn die KulturSZENE existiert weiterhin, vielleicht sogar so aktiv wie lange nicht mehr. Kultur sucht sich seine Wege und diese sind eben gerade: digital. Musiker streamen im Mindestabstand ein Konzert aus dem eigenen Wohnzimmer, Schauspieler versuchen sich an Live-Cam-Performances aktueller Inszenierungen und Theater zeigen allerlei Videomitschnitte der letzten Jahre und Jahrzehnte. Das ist schön, das ist toll, das ist nur konsequent und irgendwie auch richtig, aber es bleibt emotionslos. Die Kunst will zurück auf die Bühne, ach was, MUSS zurück auf die Bühne. Interaktion der Zuschauenden besteht aus Applaus, erstauntem Aufschrecken, Jubel oder Verwunderung in der Gestik, nicht aus Facebook-Kommentaren und Herzchen-Reaktionen. Der Zuschauer muss mit dem Geschehen konfrontiert werden, vielleicht sogar auch mit Kunst, die ihm nicht gefällt. Ist eine Inszenierung im Theater eher schlecht als recht, bleibt das Publikum (zumeist) sitzen, fragt sich, was damit wohl ausgedrückt werden soll – im Stream wird das alles kurzerhand ausgemacht.
Deshalb ist die Szene aktiv. Aber die Branche? Kaltgestellt. Die Zukunft? Ungewiss. Perspektiven? Kaum. Kultur ist eben ein Finanzsektor wie jeder andere auch, tatsächlich in Hinblick auf die Beschäftigten sogar der größte in ganz Deutschland: rund 1,7 Millionen sind in der Kultur- und Kreativbranche tätig. Eine irre Zahl. Annähernd alle sind seit März in Kurzarbeit, der Rest ist alles andere als untätig: verschieben, verschieben, verschieben. Dieses Konzert dorthin, diese Inszenierung dahin. Anfangs noch in den Sommer, später in den Herbst, manches gleich weit ins Jahr 2021. Die Locations stehen leer, nicht irgendeine Einnahmequelle in Sicht, die Veranstalter können nichts veranstalten, alle technischen und kreativen Komponenten eines Tourbetriebs, von der Security bis zur Pyrotechniker*in: vorerst arbeitslos. Vor wenigen Wochen noch unvorstellbar, aber ohne Frage mehr als nötig: eine unkontrollierte Ausbreitung war im Gange, durch Veranstaltungen wird diese nur um ein Vielfaches verstärkt. Gegen den Lockdown gibt es nichts zu sagen, das war der einzig richtige und nötige Weg. Aber der Weg davon hinaus? Dilettantisch, ungewiss, ungeplant.
Über den Fortgang der bayerischen Kultur wurde ziemlich fortwährend geschwiegen. Christian Stückl, Intendant des Münchner Volkstheater, hat kurzerhand selbst Initiative ergriffen, die Sommerpause vorgezogen und will nun ab Juli mit fünf coronakonformen Inszenierungen und verringerter Saalkapazität den Sommer durchspielen. Ein spannender, ein mutiger Plan, zudem es noch gar kein Konzept seitens der Regierung gab. Das wurde nun erarbeitet und zeitgleich mit den neuen Finanzhilfen angekündigt. „Nach Pfingsten“ gäbe es Möglichkeiten, so Ministerpräsident Markus Söder. Das Residenztheater hat das gleich zum positiven Anlass genommen: „Wir sehn‘ uns im Resi – ab Juni“. Sie sind es auch, die seit Pandemiebeginn mit dem „Tagebuch eines geschlossenen Theaters“ und „Resi ruft an“ innovative Konzepte an den Tag bringen. Die Münchner Kammerspiele, die städtischen Nachbarn schräg gegenüber, überzeugen mit allerlei Live-Cam-Performances, Diskussionen und Mitschnitten aus der Kammer 4, wie sie ihr provisorisches Online-Format genannt haben. Wie die letzte Spielzeit von Intendant Matthias Lilienthal nun zu Ende geht, weiß man aber auch noch nicht. Optimistisch blickt Max Wagner, Geschäftsführer des Gasteig München, der Wiederaufnahme des Betriebs entgegen: man habe ein Konzept erarbeitet, das bis zu 600 Besucher für die Philharmonie zulassen würde. Die Aussage: „Wir werden diese Spielzeit noch spielen“. Ein Hoffnungsschimmer.
Die Theater, sollten sie denn nun nach Pfingsten wieder öffnen dürfen, müssen sich jedenfalls allerlei wilden Maßnahmen unterwerfen: Mindestabstand von 1,5m, dadurch massiv verringertes Platzangebot, bestenfalls keine Pausen, ebenso Abstand bei den Darstellern (falls nicht einhaltbar: Schutzanzug. Kein Scherz!). Zudem soll man garantieren, dass niemand Krankes ins Theater kommt; und natürlich – Maskenpflicht. Anscheinend sogar auf dem Platz. Mit Maske und ewig weit entfernt von jeglichen Sitznachbarn, während nebenan in der Gastronomie also zwei verschiedene Haushalte ohne Maske beieinandersitzen. Das alles wird immer wieder als „neue Normalität“ gewitzelt und soll sich als Übergangskonzept verstehen. Zeitgleich spricht Kulturminister Bernd Sibler bereits davon, größere Häuser für den Herbst dementsprechend anzupassen. Übergang? Das klingt doch weniger danach. Auch im ganz offiziellen Schreiben der Kultur-Ministerkonferenz, die am 15. Mai die „Eckpunkte der Öffnungsstrategien“ für Kunst und Kultur veröffentlicht haben, wird auf lange Sicht gefahren, man spricht von einer flotten Wiederaufnahme des Probenbetriebs, „um die Zeit bis zur geplanten Wiederaufnahme des Spielbetriebs nach der Sommerpause für notwendige Vorbereitungen und Neukonzeptionen zu nutzen“. Natürlich, die städtisch und staatlich finanzierten Theater können so einen wirtschaftliche Nonsens-Betrieb fürs Erste durchbringen, wenngleich es da auch bereits Ende des Jahres eng wird – nicht-subventionierte Theater haben hierbei aber vollkommen verloren. Von Idealismus, Luft und Liebe kann man langfristig nicht überleben, auch nur schwerlich überbrücken. Ums Überbrücken muss es gehen, auf keinen Fall ums Etablieren. Das gilt übrigens genauso für die Gastronomie.
Dass es ab sofort, trotz recht niedriger Zahlen, keinen Regelbetrieb geben kann, sollte klar sein – diese Abstandskonzepte sind schräg, eigenartig, aber tatsächlich bis zum Beginn der Sommerpause ein nötiger Kompromiss, zumindest die Theaterbranche irgendwie wieder anlaufen zu lassen. Bei Konzerten sieht das alles schon ganz anders aus. Das Backstage startet bereits ein großes Crowdfunding, ab Montag in den Konzerthallen einen Wirtshausbetrieb – das Projekt dazu: überleben. Auch das Strom verkauft fleißig ihr Soli-Tickets, ebenso der Milla Club, der T-Shirts mit Bierkästen anbietet. Denn auch nur irgendein Betrieb in diesen Locations in den nächsten Monaten ist kaum in Sicht. Die Finanzhilfen sind nicht so recht ausreichend, ein stabiles Durchhalten – maximal bis September. Konzerte gibt es aktuell nur als Streams oder im Autokino, näher kommt man dem Erlebnis gerade nicht. Dabei fehlt dort fast alles, was eben so ein Live-Konzert ausmacht: Kollektivität, Intimität, Sound und Nähe zum Künstler. Natürlich, für den komplett ins Wasser gefallenen Sommer ist das Autokino-Konzert der gerade einzig mögliche Ersatz. Besser als Nichts. Aber „Nichts“ ist auch wirklich nicht schwer zu toppen.
Es bleibt also düster in der Konzertbranche und auch allgemein in der Kultur-Branche. Selbst wenn die Theater nun wieder öffnen dürfen – was wollen sie spielen? Intendant Stückl spricht während seiner Pressekonferenz von zwei coronakonformen Stücken im aktuellen Repertoire, die Anzahl dürfte in anderen Theatern nicht anders sein. Diese nun also auf Repeat spielen lassen? Viele Solo-Abende? Aber an Kreativität – und das ist immerhin der große Vorteil der Kultur – hat es noch nie gemangelt, dann müsse sich das Theater eben wieder einmal neu erfinden, wie es der Intendant des Residenztheaters Andreas Beck in einer schriftlichen Ansage an sein Publikum gut zum Punkt brachte. Die Konzerte, das Kabarett, all die Veranstaltungsorte, die oft sehr gut, manchmal aber auch allgemein eher spärlich besucht wurden? Die Clubs, die Bars, die privaten Spielstätten? Diese stehen vor dem Abgrund, teilweise schon auf dem Weg nach unten. All das, was ein arbeitstüchtiges und meist städtisches Leben erst lebenswert macht – massiv bedroht. Lösungen sind diese Abstandskonzepte dort nicht, maximal ein noch schnellerer Weg in die Insolvenz bei geringer Auslastung zu steigenden Betriebskosten. Wenn die Zahlen es zulassen – und das werden sie wohl zu Herbstbeginn allemal und würden es, je nach Sichtweise, jetzt bereits –, ist der eigenverantwortliche Weg der einzige mögliche, um diese Branche zu retten, nicht die ängstliche Schließung vor einer potenziellen zweiten Welle. Der Impfstoff mag eine gesellschaftliche Lösung sein – die Kulturbranche ist bis dahin schon verloren.
Autor: Ludwig Stadler