Ulrich Rasche inszeniert den »Woyzeck« des derzeit am Residenztheater prominent vertretenen Georg Büchner. Die Frage nach dem Wie der Umsetzung stellt sich dabei ob des eigenwilligen und beständigen Stils des Regisseurs nicht so sehr; unklar ist im Vorfeld der Münchner Premiere am 31. Januar vielmehr, was aus dem Drama und seinem Protagonisten wird, wenn es in Ulrich Rasches Kosmos aus musikalisch unterbauter Textdeklamation und monströser Bühnenmaschinerie eingesenkt wird.
Es bleibt dem Publikum verborgen, wann die bühnenweite, nach allen Seiten hin neig- schwenkbare und Scheibe, auf welcher sich das Drama ereignen soll, anfängt, sich zu drehen. Die Kreisbewegung, die allen Figuren ein unentwegtes Gegensteuern aufzwingt, die Stillstand zu einem Akt der Balance und Anstrengung macht, hat weder Anfang noch Ende. Es ist eine alles färbende Absurdität, eine Sphärenmusik – kein kosmisch-harmonisches Brümmeln, sondern ein idiotisches Sinusfisteln – die manchmal aus dem Bewusstsein geraten kann, aber mit jedem Straucheln und jedem kurzen Aussetzen im Wassertreten wieder hervortritt. Das endlose, sichtlich auch physisch fordernde Angehen der Schauspieler gegen das knarzende Räderwerk wirkt manchmal regelrecht übelkeiterregend.
Auf diesem Ixionskarussell ist jedoch nicht nur Woyzeck (Nicola Mastroberardino) selbst festgeschnallt, sondern die ganze Mannschaft: Der depressive Hauptmann (Thiemo Strutzenberger), der potente Tambourmajor (Michael Wächter), Woyzecks untreue Partnerin Marie (Franziska Hackl). So sehr auch Büchner ein politischer Autor gewesen sein mag, so abgeschmackt und fad sind doch Lesarten des Stücks, die den braven Soldaten Woyzeck, der seinen Hauptmann rasiert und seine Erbsen isst, als geschundenen Hund darstellen, der von verwerflichen Repräsentanten des ›da oben‹ solange getriezt und getreten wird, bis er zu knurren und schnappen beginnt. Gerade dies findet man nicht in Rasches Inszenierung, wo selbst die intimsten Sätze als von zyklopischen Händen aufgeschichtete Haufen mannshoher indifferenter Wortbrocken präsentiert werden. Das ewige Drehen der unverhüllten Apparatur auf der Bühne weist über die Determiniertheit des ›interessanten Casus‹ des von Armut und experimentell angeordneter Mangelernährung in den Wahn und zum Mord an Marie getriebenen Woyzeck hinaus auf eine kosmologische, sich dem menschlichen Streben und Sinnen entziehende Ebene. Das Brüllen der gepeinigten Kreatur Woyzeck, das Flirten der Marie, das idiotische Geplapper des Ausrufers (Toni Jessen) sind nur das flüchtige lokale Raunen des großen Räderwerks, wie es in einer deutschen Garnisonsstadt des 19. Jahrhunderts zu hören war. Wächters großartige Darbietung des Tambourmajors als kraftprotzig heranschleichendes Raubtier gemahnt in der Tat an Dokumentationen des Lebens der Tiere: Rivalität der männlichen Artgenossen zur Paarungszeit.
Mastroberardinos Woyzeck ist kein bloß passiver, von den Umständen in die Knie gezwungener armer Teufel. Zwar unsicheren Schritts, aber hoch aufgerichtet, mit breiter Brust, bleibt er bis zuletzt mehr ein Bild kindhafter Unverdorbenheit, er, der, unbehelligt von Fortschrittsglaube und naivem Aufklärertum, seinen Dienst tut, und in seinem Volksglauben und der Liebe zu seiner Frau viel mehr in der Nabe des großen Rades steht, als die anderen Figuren.
Und wenn zuletzt, nach beinahe drei Stunden und dem vollbrachten Mord an Marie, die Drehscheibe senkrecht gekippt und vom Publikum abgewandt, ihre Unter- und Rückseite als riesigen mechanischen Rachen präsentiert, dann rückt die Inszenierung selbst in ihren eigenen Sinnzusammenhang. Es ist wieder einmal geschehen, und wir haben zugesehen. Doch die Frage nach der Schuld – die Hand, die das Messer hob, die Hand, die das Messer verkaufte, die Hand, die Marie die verräterischen Ohrringe schenkte – verliert sich – in dieser Welt – im Unbestimmten.
Auch die so prominent und permanent eingesetzte Live-Musik (Monika Roscher) bringt nicht ›durch die Hintertür‹ die im Spiel ausgesparte Deutungsbotschaft herein. Der monotone, düster-aggressive Soundtrack oszilliert zwischen dem Verstärken der Handlung, bis hin zu dem Punkt, da das Bühnengeschehen mehr wie ein Konzert von Swans oder Daughters wirkt, denn wie musikalisch untermaltes Sprechtheater, und dem Durchscheinendmachen eben derselben Handlung, wenn die gesprochenen Worte resonanz- und wirkungslos in die Musik hineinfallen und sich als das inhaltslose Röhren und Tschilpen erweisen, das sie sind. Gerade aber, wenn der hypnotische Sprechrhythmus der Schauspieler sich der Musik so weit annähert, dass das Sprechen selbst beinahe in der Musik aufgeht, wünscht man sich manchmal ein noch nachdrücklicheres Bekenntnis zu dieser Vermählung: Warum nicht den bereits so deutlich angeschwollenen Hintergrund endgültig in den Vordergrund holen und den Soundtrack aus seinem klanglichen und funktionalen Korsett befreien? – Doch: Vielleicht würde das das geheimnisvolle Gleichgewicht zwischen dem Unausweichlichen und dem trotzdem so Furchbaren zerstören, das dieses Stück so gelungen und sehenswert macht.
Kritik: Tobias Jehle