Seit mehr als einem halben Jahrhundert zählen „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt zum Standardrepertoire deutschsprachiger Bühnen. Das Lehrstück über die moralische Verpflichtung der Wissenschaft darf zu jenen Klassikern gezählt werden, deren Neuinszenierungen sich schon durch die fortwährende Aktualität des Sujets immer wieder legitimieren. Nun ist das Stück am Münchner Volkstheater zu sehen, wo es unter der Regie von Abdullah Kenan Karaca am 19. Mai auf der Großen Bühne seine Premiere feierte.
„Was einmal erdacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden“…das Zitat, das auf das Kernproblem der modernen Forschungsarbeit abzielt, gilt auch für die Handlung des Dramas, die sich – trotz Kürzungen – stark am Original orientiert. Die Nervenheilanstalt „Les Cerisiers“ ist innerhalb weniger Monate zum Schauplatz zweier Morde geworden. Die Täter, die ihre Pflegerinnen erdrosselt haben, sind daher weitestgehend isoliert in einem eigenen Gebäude der Klinik untergebracht. Während der eine behauptet, er sei Einstein (Vincent Sauer), gibt der andere vor, Newton (Mauricio Hölzemann) zu sein. Die vermeintliche Unzurechnungsfähigkeit der Mörder (besser: der „Patienten!“) treibt den überforderten Kommissar Voß (Pascal Fligg), dessen eigene Psychosen kaum zu übersehen sind, selbst an den Rand des Wahnsinns und damit fast in die Arme der diabolischen Anstaltsleiterin Mathilde von Zahnd (herrlich durchgeknallt: Carolin Hartmann).
Als mit Johann Wilhelm Möbius (Jakob Immervoll) auch der dritte und letzte Insasse des abgelegenen Trakts zum Mörder wird, nimmt die Katastrophe endgültig ihren Lauf. Möbius, der von Wahnvorstellungen und dem Erscheinen des König Salomos philosophiert, ist in Wahrheit ein berühmter Physiker, dessen Entdeckung einer sogenannten Weltformel das Potential besitzt, die gesamte Menschheit für immer zu zerstören. Mit seinem vorgetäuschten Irrsinn und seinem absichtlichen Rückzug in das Sanatorium, will Möbius die Welt vor seiner eigenen Forschungsarbeit schützen. Doch die ist längst in den Fokus der Geheimdienste gerückt! Newton und Einstein sind ebenfalls Wissenschaftler und außerdem Agenten, die die Formel im Auftrag konkurrierender Mächte und Systeme in ihren Besitz bringen sollen. Auch ihr Wahnsinn ist nur Mittel zum Zweck.
Während sich also die Insassen der Klinik als kerngesund erweisen, befinden sie sich in den Händen einer vollkommenen Psychopathin! Als Möbius glaubt, er habe die Weltformel endgültig vernichtet, ist es bereits zu spät. Ausgerechnet Mathilde von Zahnd hat die Manuskripte des Physikers kopiert und für ihren König Salomo die Macht über das Schicksal der Menschheit an sich gerissen! „Was einmal erdacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“
Das ohnehin schon tragikomische Stück wird in der Version Karacas noch exzentrischer. Durch die starke Überzeichnung der Charaktere, die durch maskenhafte Gesichter besonders prononciert wird, entwickelt sich die Inszenierung zu einer klug durchdachten Groteske, die an den entscheidenden Stellen, die richtigen Akzente setzt. Neben Carolin Hartmann und einem großartig agierenden Pascal Fligg (dessen nervöses Auftreten und irres Mienenspiel gerade zu Beginn wieder einmal bestens zu amüsieren versteht), überzeugt vor allem Jakob Immervoll als genialer, aber schwer gepeinigter Wissenschaftler Möbius. Er lässt den jahrelangen inneren Kampf des Physikers und die Verzweiflung, mit der er sich seinem Verhängnis beugt, deutlich spürbar werden. Sein Appell zur Verantwortung und zum ethischen Handeln wird unzweifelhaft zum schauspielerischen Höhepunkt der Aufführung.
Der stimmige Gesamteindruck wird durch das originelle Bühnenbild abgerundet. Passend zum Ort des Geschehens wirken die rautenförmigen Kacheln wie ein steriler Behandlungsraum und versprühen den Charme einer Gummizelle im psychedelischem Stil. Die dahinter liegende Welt wirkt dabei auch nicht viel einladender, in grelle Farben getaucht, scheint ihr Untergang bereits besiegelt. Wie Dürrenmatt es selbst ausgedrückt hat: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung nimmt.“
Fazit: Frische und pointierte Neuauflage eines großartigen Stückes! Eine Inszenierung im typischen Karaca-Stil; kurzweilig, heiter und dennoch mit dem nötigen Tiefgang! Sehenswert!
Kritik: Hans Becker