Dicker nasser Nebel durchstreift die Edmund-Rumpler-Straße, gigantische Hirschkäfer verkaufen Oxycodon unter flackernden Straßenlaternen, aus den Gullis sprudelt schwarze Milch – also nichts wie rein ins Zenith, dort ist es warm, dort heißt es heute: Nostalgia Creeps, denn niemand geringeres als Massive Attack gastieren an diesem 5. Februar in München, um das 20-jährige Jubiläum ihres Erfolgsalbum „Mezzanine“ zu feiern – mit dabei die originalen Gaststimmen des Albums, Elisabeth Fraser (Cocteau Twins) und Horace Andy. Der zeitige Einlass um 18:30 Uhr verhindert übermäßig lange Schlangen, in der Kälte stehen müssen nur die, die keine Karte mehr für das ausverkaufte Konzert ergattert haben. Um acht soll es losgehen – tut es aber nicht. Das immer mehr zu Pfiffen angeregte Publikum wird eine geschlagene Stunde mit Robbie Williams‘ „Angels“ und ähnlichen Kamellen beschallt, ehe dann um 21 Uhr endlich das Licht ausgeht. Für einen Gutteil der Anwesenden bedeutet das: Mehr als zwei Stunden anstehen für ein 90-minütiges Konzert. Muss eigentlich nicht sein.
Wer erwartet hat, dass Massive Attack einfach ihr Album von vorne bis hinten durchspielen, hat sich schwer getäuscht. Nicht nur wurde die Songabfolge stark verändert; zu den 10 Songs von „Mezzanine“ gesellen sich sechs Coversongs – sieben, wenn man den Ausschnitt aus Aviciis „Levels“, mit dem das finale „Group Four“ eingeleitet wird, mitzählt. Avicii?! Ja, daneben u.a. Ultravox, Pete Seeger und The Cure. – na denn.
Los geht es mit „I Found a Reason“ von The Velvet Underground: eigentlich der Abspann-Song schlechthin. Aber schließlich geht es hier gewissermaßen darum, den Film zurückzuspulen. Mit „Risingson“ begibt man sich schließlich hinein in den düsteren Kaninchenbau von „Mezzanine“. Schade nur, dass das Low End des Klangspektrums, das so viel zur bedrohlichen Atmosphäre dieses Songs beiträgt, reichlich unterpräsentiert wirkt. – Was nicht immer so ist, „Dissolved Girl“ beispielsweise ist pure, laute Energie, körperlich spürbar. Wie so oft bei den „Mezzanine“-Songs entwickelt sich hier der starke Wunsch, Massive Attack möchten diesen Beat einfach immer weiter, immer lauter spielen. Stattdessen bekommt man flugs das nächste Cover untergeschoben. Am vielleicht unpassendsten ist „See a Man‘s Face“ aus Horace Andys Soloschaffen. Massive Attacks Roots in Soul und Hiphop in allen Ehren – aber Reggae in vollem Umfang? Hier wird die eingekapselte Atmosphäre des Albums gewaltvoll, und wie es scheint, ohne echten Plan aufgebrochen. Am ehesten fügt sich noch das Bauhaus-Cover „Bela Lugosi‘s Dead“ ein, doch auch dieses spricht sichtlich eine andere Sprache, eine, der Massive Attack nicht genug den eigenen Slang aufdrücken, um nicht allzu großen Brüche zu erzeugen. Aber eben das scheint gerade das Ziel gewesen zu sein: Ultravox‘ „Rockwrok“ lässt sich einzig als Verfremdungstat lesen.
Sie konnten wohl nicht einfach als Dienst und Dank am Publikum die eigene Musik gut präsentieren: 3D und Daddy G scheinen dem Ganzen den Anstrich von ‚Kunst‘ geben zu müssen, offenbar aus der Meinung heraus, die Musik von „Mezzanine“ erfülle diese Anforderung nicht genügend. ‚Kunst‘ schreit auch permanent und aufdringlich die riesige Leinwand hinter der Band, auf der meist zusammengeschnittene Clips gezeigt werden, am liebsten schreiende Kontraste zwischen Krieg und westlichem Konsumismus, dazwischen immer wieder schlecht ins Deutsche übersetzte Botschaften darüber, wie unsere Daten geklaut werden und wir zu hirngewaschenen Untertanen gemacht werden und so weiter.
Es ist dieses bornierte Sendungsbewusstsein, das offenbar auch aus der Überzeugung geboren wird, dass das eigene Geschaffene nicht mehr relevant genug ist, um guten Gewissens damit allein um die Welt zu ziehen, und das ähnlich wie bei Roger Waters‘ megalomanischen Shows einen schalen Nachgeschmack hervorruft. „Ihr lebt in einer Endlosschleife aus zweidimensionalen Bildern!“, rufen Massive Attack dem Publikum schriftlich zu, es sei Zeit aufzuwachen – und bedienen sich dabei eben selbst gerade dieser Bilder am laufenden Band. Und im Gegensatz zu Waters, bei dem die Bilder sich schon zu einem eigenen Spektakel ausgewachsen haben, lenken sie hier nur ab. Warum Massive Attack nicht die Chance ergriffen haben, das haltlose Karussell der Bilder im – eben bildlosen – Medium der Musik zu durchbrechen, warum sie nicht eine konsequente, lebendige Reaktualisierung und damit Dekontextualisierung ihres Albums vornehmen wollten und stattdessen dieses fragmentierte Gebilde schufen, das allzu oft an einen von Werbeblöcken und eingeblendeten Bannern gestörten Film erinnert, fragt man sich gerade ob solcher Perlen wie „Black Milk“ oder „Group Four“, beide klar und unverkennbar intoniert von Liz Fraser, die wie die ganze Band eine solide Performance abliefert – soweit sich das an den gezählten Momenten festmachen lässt, in denen sich die Musik geradezu gewaltsam in den Vordergrund drängt. Zu diesen gehören naturgemäß auch die Singles „Angel“ und vor allem das berühmte „Teardrop“.
Was „Mezzanine“ für Massive Attack und noch viel mehr für so viele Fans bedeutet, daran kann auch die Band selbst nicht rütteln. Als Verwalter ihres eigenen Erbes geben die Briten jedoch keine wirklich gute Figur ab.
Setlist: I Found a Reason (The Velvet Underground Cover) / Risingson / 10:15 Saturday Night (The Cure Cover) / Man Next Door / Black Milk / Mezzanine / Bela Lugosi’s Dead (Bauhaus Cover) / Exchange / See a Man’s Face (Horace Andy Cover) / Dissolved Girl / Where Have All the Flowers Gone? (Pete Seeger Cover) / Inertia Creeps / Rockwrok (Ultravox Cover) / Angel / Teardrop / Levels (Avicii Cover) / Group Four