Der Platz vor der Theaterfabrik verströmt eine düstere Londoner Herbst-Atmosphäre, am 29. Oktober 2017, an einem der ersten richtig kalten Abende des sich neigendes Jahres stehen Schwarzgewandete in kleinen Grüppchen beisammen, warten von Mäusen umhuscht auf den Schlag der Kirchturmuhr… der dann endlich nicht die Geisterstunde, sondern 19:00 Uhr und die Öffnung der Türen ankündigt. Aber was könnte besser zu moribunden Befindlichkeiten und kalten Füßen passen, als eine dreifache Prise düst‘ren Doom-Rocks?
Um zehn Minuten vor acht ist die Halle aufgelockert voll – dass dafür offenbar nicht zuletzt das ungemütliche Wetter draußen und das Bestreben, eine gute Startposition für den Headliner zu ergattern, verantwortlich sind, zeigt sich, als der Auftritt der Portugiesen Sinistro von stetem Palaver begleitet wird. Dabei liefert die Band und vor allem Frontfrau Patricia Andrade eine mehr als solide Show ab: Während die Musiker eher unscheinbar im Hintergrund verbleiben, tanzt die Sängerin wie eine einem opulenten Stummfilm entstiegene Besessene in ruckartigen, ekstatischen Bewegungen; wenn sie singt, scheint sie Botschaften aus dem Äther zu übersetzen. Der von energetischen Dynamikwechseln durchzogene, mit flirrenden Gitarrenmelodien und entrücktem Gesang geschliffene Doom nötigt dem Publikum zunehmend mehr Anerkennung ab, auch wenn sich Zuhörer wie Band insgesamt eher verhalten geben. Nach einer halben Stunde treten Sinistro ab und bereiten zusammen mit den Jungs von Pallbearer eilig die Bühne für deren Auftritt vor.
Das Teamwork hat sich gelohnt und nicht gelohnt: Zum einen kann man sich freuen, dass Pallbearer nach nur einer Viertelstunde auch schon loslegen, zum anderen kann man den mageren Sound beklagen: Das Schlagzeug klingt, als schlüge man mit einer leeren Shampoo-Flasche auf die Glatze von Meister Propper, und vom Gesang ist im Allgemeinen eher wenig zu hören. Doch allen Widrigkeiten zum Trotz gelingt es den Amerikanern, eine markante Duftmarke auf der Bühne zu hinterlassen. Geradezu explosiv gebärdet sich Joseph Rowland, der immer wieder seine Fäuste oder seinen Bass oder beides fordernd in die Luft reckt und am vorderen Bühnenrand Präsenz markiert. Dennoch kommen die Doom-Progressionäre leger und ungezwungen rüber, eindeutig legen sie den Fokus auf Musik anstatt Pose, was auch auf sehr positive Resonanz stößt: Spätestes bei „Fear & Fury“ recken sich der Band die ersten Teufelshörner entgegen. Bleibt nur die Frage, warum man Gitarrist Devin Holt an den unbeleuchteten und unbeachteten Bühnenrand verbannt hat – und nach 45 Minuten bzw. am Ende des Abends manifestiert sich der Eindruck, dass die „jungen Wilden“ an Ideenreichtum und Begeisterungspotential die „Alten“ von Paradise Lost“ übertroffen haben – was diese mit schierer Wucht und einer eingefleischten Fanschar ausgleichen.
Und die ist von der ersten Sekunde an: voll dabei. Nach einer halben Stunde Umbauzeit entern Waltteri Väyrynen, gegen dessen Schießbude das Schlagzeug von Pallbearer-Drummer Mark Lierly aussieht wie Sandkasteninventar, Greg Mackintosh, der hinter seiner Klampfe den ganzen Abend lang äußerst authentischen und ansteckendem Frohsinn verbreiten wird, Steve Edmondson am Bass, Aaron Aedy an der Rhythmusgitarre und Sänger und Protagonist Nick Holmes die Bühne, begleitet von epischer Einlaufmusik. Man beginnt mit „From The Gallows“, vom neuen Album „Medusa“, streut aber bald und nicht selten ältere Stücke aus ihrer Gothic-Rock-Vergangenheit ein, wie das Doppel „Enchantment“ und „Erased“, das bei der sich ohnehin schon begeistert zeigenden Zuhörerschaft den Dopaminspiegel weiter in die Höhe treibt.
Dabei steht es den Briten wesentlich besser zu Gesicht, wenn sie ihre harte Seite hervorkehren: Nicht nur macht Nick Holmes growlend eine wesentlich bessere Figur als singend, auch wirkt die Band kraftvoller und mitreißender, wenn sie nicht auf eingespielte Synthesizer angewiesen ist. Das sich eigentlich hervorragend als Live-Hymne eignende „Faith Divides Us – Death Unites Us“ ertrinkt beispielsweise qualvoll in viel zu lauten Dosenstreichern.
„Das ist jetzt wahrscheinlich der schnellste Song, den wir heute spielen werden“, kündigt Nick das „Medusa“-Stück „Blood and Chaos“ an. Ironisch fügt er hinzu, „jetzt hättet ihr die Gelegenheit zu einem Moshpit oder einer Wall of Death oder sowas“. Als ein (kleiner) Moshpit in der Tat zustande kommt, zeigt sich der Sänger beeindruckt: „Wow! An einem Sonntagabend hätte ich nicht damit gerechnet…“ Nein, dass die neuen Songs beim Publikum nicht ankämen, kann man wirklich nicht feststellen, im Gegenteil: „Medusa“ zeigt Paradise Lost noch einmal in rauer Doom-Death-Pracht und das stößt sichtlich auf offene Ohren – man singt, man klatscht (im Takt), man reckt die Arme in die Luft.
Mit dem zwar Klassikerstatus genießenden, aber doch nicht recht zündenden „Embers Fire“ verabschiedet sich die Band fürs erste, um dann mit „No Hope In Sight“ und „The Longest Winter“ eine grobschlächtige und äußerst wirkungsvolle Zugabe aus dem Boden zu stampfen. Und bevor Greg Mackintosh mit einem euphorischen Hüpfer und seine Kollegen unter Winken und Drumstick-Dart von der Bühne treten, gibt es natürlich noch – na, was wohl:
„Is it true that there is worth inside
So say just words to me“
Setlist: From The Gallows / Tragic Idol / The Enemy / Gods Of Ancient / Enchantment / Erased / Medusa / An Eternity Of Lies / Faith Divides Us – Death Unites Us / Blood And Chaos / Eternal / Beneath Broken Earth / Embers Fire – Zugabe: No Hope In Sight / The Longest Winter / Say Just Words
FAZIT: „Bald feiern wir unser Hundertjähriges“, scherzt Nick Holmes – tatsächlich ist es nicht zu leugnen, dass Paradise Lost (live) längst zu Verwaltern ihres Erbes geworden sind. Und dieser Aufgabe sind sie ganz offensichtlich gewachsen: Das beweist nicht nur die intelligente Songauswahl, die eine gut funktionierende Balance zwischen Alt und Neu schafft, sondern auch, mit welch ernsthafter Überzeugung die Truppe offenbar hinter dem steht, was sie tut, und mit der sie trotz aller – im positiven Sinne – Altlasten noch immer relevantes, neues Material präsentiert.
Bericht: Tobias Jehle
Fotos: Ronja Bierbaum
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