13. Juni 2018: Roger Waters in der Olympiahalle. Das ist für viele Münchner, sowie Menschen aus dem nahen und fernen Umland, ein Großereignis, die vielleicht letzte Chance den profilierten Ex-Bassisten und (Co-)Bandleader von Pink Floyd live zu erleben und mit ihm die Musik dieser legendären Band zu feiern, denn abgesehen von einigen Songs seines neuesten Soloalbums „Is This the Live We Really Want?“ gibt Waters auf dieser, der „Us+Them“-Tour, vor allem einen Querschnitt durch die (von Waters maßgeblich mitgestaltete) Hochzeit von Pink Floyd, die die vier Klassikeralben „The Dark Side of the Moon“, „Wish You Were Here“, „Animals“ und „The Wall“ einschließt, zum Besten.
Für Roger Waters und seine Band ist diese Show eine unter vielen: 150 solcher Auftritte hätte man schon hinter sich, verrät Waters am Ende des Konzerts. Obendrein ist die – komplett bestuhlte – Olympiahalle, gemessen an den Spielstätten, die der Engländer schon mit Leichtigkeit füllte, fast ein Wohnzimmer.
Für Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter ist das Konzert weder Routine noch musikalisches Highlight, sondern: Ein Ärgernis. Der Politiker reiht sich mit seinem geäußerten Missfallen über das stattfindende Event in eine wachsende Gruppe an Kritikern ein, die Waters, der als strikter Gegner der israelischen Siedlungspolitik auftritt und sich für die umstrittene Organisation BDS engagiert, Antisemitismus vorwerfen. Doch dazu später mehr.
Zunächst gilt es, sich in die lange Schlange vor den Pforten der Olympiahalle einzureihen, wo sich Vorfreude und Fan-Shirts aus mehreren Dekaden tummeln. Das Waters-Publikum ist den Teenager-Jahren zwar im Durchschnitt längst entwachsen, sichtlich sind jedoch viele Zuschauer auch bei weitem nicht alt genug, um Fans der ersten Stunde zu sein. Und als der Uhrzeiger gen Viertel nach Acht vorrückt, brandet auch ein ganz ungesetztes, hochfrequentes Jubeln durch die Reihen der Zuschauer.
Vor Beginn der Show ist auf die große Leinwand hinter der Bühne das Bild einer Frau, mit abgewandtem Gesicht am Strand sitzend und in die Ferne blickend, projiziert worden, mit dem Opener „Speak to Me“/“Breathe“ wird diese Szenerie jäh in einen psychedelisch-bedrohlichen Strudel hineingezogen, der sich die nächsten drei Stunden beständig kreiselnd hinter, über, und immer wieder auch vor den Musikern und der Musik abspulen wird. Doch wo ist Waters? Vereinzelt steht er im Zentrum der Bühne, eine drahtige Gestalt mit vollem weißem Haar, über seinen Bass gebeugt. Das Singen überlässt er zunächst – und auch des Öfteren – Gitarrist Jonathan Wilson. Erst nach und nach, beim aggressiven „One of These Days“, nimmt Waters Kontakt mit dem Publikum auf: Mit kantigen, sperrigen Gesten, mit brüderlich gereckter Faust bewegt er sich von einer Bühnenseite zur anderen. Ja, Waters ist ein Kämpfer, ein erbitterter, manchmal vielleicht verbitterter Kämpfer für seine Vorstellung von einer besseren Welt. „If I had been God / … / I believe I could have done a better job“, singt er mit einer Prise Selbstironie in „Déjà Vu“, nach dem beklemmenden „Welcome to the Machine“ dem siebten auf der 21 Titel umfassenden Setlist.
Doch wen umfasst eigentlich die Band hinter dem verhinderten Allmächtigen? Neben dem erwähnten Jonathan Wilson betätigt sich der lange schon mit Waters (und auch Steven Wilson) spielende Dave Kilminster, der sich ebenso wie seine Mitmusiker größtenteils unauffällig im Hintergrund aufhält. An Gitarre und Bass findet man außerdem Gus Seyffert, während sich Bo Koster und Jon Carin an den verschiedenen Keyboards austoben und Joey Waronker die Drums bedient. Weil jede Band einen Schotten brauche, wie Waters witzelt, bedient Ian Ritchie das Saxophon. Und weil jede Band, die sich ernsthaft mit dem späteren Schaffen von Pink Floyd auseinandersetzt, mindestens zwei Backing-SängerInnen braucht, gibt es da noch Jessica Wolfe und Holly Laessig, die ihren eigenen Stil darin gefunden haben, einander äußerlich bis aufs Iota zu gleichen. Wenn sie nicht gerade singen, ergehen sich die beiden in mehr oder weniger spannenden Choreographien oder in Slipknot-hafter Schautrommelei.
Aber um Langweile wegen mauer Choreo muss sich hier wirklich niemand Sorgen machen: Während der ersten Hälfte des Konzerts, ehe Waters mit „Another Brick in the Wall Part 2 & 3“ die Pausenglocke läutet, ist es die riesige Leinwand, die mit ihren zwar nie besonders überraschenden, doch stets mächtigen, das Bühnengeschehen live inkorporierenden Filmen und Animationen oftmals vergessen lässt, dass da, am Fuße des großen Fernsehers Roger himself, „in the flesh“ steht. Doch im Vergleich zu den Geschützen, die Waters in der zweiten Hälfte der Show auffährt, ist all das kaum mehr als unbedeutendes Hintergrundgeflimmer: Von der Decke herab senkt sich eine die Olympiahalle längs durchmessene Leinwand, mit Schornsteinen, mit darüber schwebendem Schwein. Der megalomanische Waters hat die ikonische, das Albumcover von „Animals“ zierende Battersea Power Station als schwebende Festung mit auf Tour genommen. Wohl dem, dem Youtube-Videos nicht diesen Aha-Moment verdorben haben. Die „Fassade“ des Kraftwerks ist natürlich keine statische Einblendung, sondern dient fortan als monströse Projektionsfläche, die an Waters‚ „The Wall“-Shows denken lässt, wo eine während der Show errichtete gigantische weiße Mauer als schwindelerregend große Leinwand fungiert.
Man erinnere sich: Die Setlist umfasst 21 Songs. Nun sind Pink Floyd-Songs ohnehin meist keine Drei-Minuten-Angelegenheiten, das Überlängen-Doppel „Dogs“ und „Pigs“ bildet aber selbst hier in zeitlicher Hinsicht eine Ausnahme. Letzteres Stück benutzt Waters als groß angelegte Schmähung Donald Trumps.
An dieser Stelle ein paar kritische Töne. Zunächst wirft die Art, wie Waters visuell über den Präsidenten herfällt, in ihrer verbissenen, sich dessen Niveau stark annähernden Plattheit ein etwas seltsames Licht auf den, der Kritik auf solche Weise übt. Darüber hinaus benutzt Waters selbst Techniken und Methoden, wie sie für die von ihm so oft und heftig angeprangerten Populisten und Agitatoren typisch sind: Die Macht der großen Bilder, die suggerieren, große Sachverhalte durch simple Allegorien darstellen zu können und denen man bisweilen auch eine gewisse Geschmacklosigkeit vorwerfen kann – die Münchner Kinder beispielsweise, die zu „Another Brick in the Wall“ ihre Choreographie am vorderen Bühnenrand aufführen dürfen, stecken zunächst in Overalls, wie sie Häftlinge in Guantanamo tragen müssen, ehe darunter T-Shirts mit der Aufschrift „Resist!“, dem Motto von Waters‘ Bühnenprogramm, zum Vorschein kommen. Wen und was will Waters (hier) damit erreichen? Ein Effekt, den der Bilderansturm leider in der Tat hat, ist der, dass die Musik, von der Band tadellos dargeboten und in glasklarem Surroundsound die Halle durchströhmend immer wieder in den Hintergrund tritt, zum Score des Spektakulums wird. Ohne noch mehr Einzelheiten desselben aufzählen zu wollen, muss noch erwähnt werden, dass auch auf der „Us+Them“-Tour ein aufblasbares Schwein dabei ist, das zur rechten Zeit und mit der inmitten all des aufwändigen visuellen Gepolters befremdlich passenden Aufschrift „Bleibe menschlich!“ versehen über die Köpfe der Zuschauer hinwegschwebt.
Es ist nicht die schlechteste Idee, ab und zu einfach die Augen zu schließen oder bewusst nur die Band zu betrachten. So kann man beispielsweise „Us and Them“ in all seiner epischen Großartigkeit genießen – oder in „Another Brick in the Wall Part 3“ einen kurzen, aber sehr intensiven, unverstellten Blick auf den fühlenden Menschen Waters werfen, ehe die Show wieder die Oberhand gewinnt.
Spätestens zu „Eclipse“ sollte man die Augen jedoch schleunigst wieder öffnen, denn das Finale, das Waters und sein Gefolge hier abfeuern, verdient es in jeder Hinsicht, gesehen zu werden: Ein Prisma aus Laserstrahlen, die gesamte untere Breite der Halle einnehmend, regenbogenfarbene Lichter, und, zur verpflichtenden Zugabe „Comfortably Numb“: Noch mehr Regenbogen, Konfettiregen (jeder Zettel mit der Aufschrift „Resist!“, Hände, die einander ergreifen, sowohl auf der von Farben gefluteten Leinwand, als auch im Publikum, das sich zu großen Teilen erhebt, die Sitzordnung vergessend vor der Bühne zusammenströmt und dem Meister, als das berühmte Gitarrensolo verklungen ist, stehend lang und anhaltend Beifall spendet.
Waters ist sichtlich gerührt, ringt um Worte ballt die Fäuste. Er spüre so viel Liebe in diesem Raum, äußert er, das gebe ihm Hoffnung für die Welt. Er wendet sich in scharfen Worten gegen den OB: „Mich einen Antisemiten zu nennen ist so lächerlich, dass es gar nicht mehr witzig ist“, „für mich gilt, dass alle, alle Menschen gleich sind“ und: „wenn ein Bürgermeister, der sich an irgendjemandes Meinung hält, droht, ein Rockkonzert abzusagen, dann ist es nicht mehr allzu weit bis zu dem Punkt, wo man wieder Bücher auf öffentlichen Plätzen aufstapelt und anzündet!“
Dies ohne Kommentar belassend muss folgendes festgehalten werden: Das, wofür es sich wirklich gelohnt hat, dieses Konzert zu besuchen, was hinter all dem expliziten, lautstark geäußerten Rundherum als ferner, geistvoller Fluchtpunkt schwebt, was der Katalysator für die von Waters erspürte Liebe, die zuletzt in viele Gesichter geschriebene, leicht melancholische Hochstimmung und Gelöstheit ist, ist: Die Musik. Sie kann man Roger Waters nicht nehmen – und auch uns nicht.
Setlist:
Set 1: Speak to Me/Breathe / One of These Days / Time/Breathe (Reprise) / The Great Gig in the Sky / Welcome to the Machine / Déjà Vu / The Last Refugee / Picture That / Wish You Were Here / The Happiest Days of Our Lives / Another Brick in the Wall Part 2 / Another Brick in the Wall Part 3
Set 2: Dogs / Pigs (Three Different Ones) / Money / Us and Them / Smell the Roses / Brain Damage / Eclipse // Zugabe: Comfortably Numb
Bericht: Tobias Jehle
Bilder: Ludwig Stadler