Eine musikhistorische Bedeutung zu haben, gar ein Genre nicht nur geprägt, sondern erfunden zu haben – diese Ehre wird kaum Bands zuteil, New Order aus Großbritannien aber definitiv. Ob nun die genannte Formation mehr Fans hat oder doch die Vorgänger-Band Joy Division mit dem verstorbenen Sänger Ian Curtis, das bleibt wohl auch an diesem 5. Oktober 2019 in der Philharmonie am Gasteig eine Frage, denn das Publikum ist bunt gemischt und schwarz gewandt, aber die Shirts mit den jeweiligen Bandnamen halten sich die Waage. Der klassische Konzertsaal ist ausverkauft, die Erwartungen hoch.
Unerwartet allerdings, dass man sich für eine Support-Band entschieden hat, die in Form von Stolen die Bühne betritt. Die chinesische Formation spielt an diesem Abend ihren allerersten Auftritt in Deutschland und schafft es in ihrem 35-minütigen Set vollkommen vergessen zu machen, dass sie ja eigentlich gar nicht der Headliner sind, so enthusiastisch bieten die Musiker ihr Liedgut dar. Eine gelungene Kombination aus elektronischer Musik und harten Gitarren-Riffs erzeugt eine Spannung, die Stolen direkt in die Performance einbaut und vor allem durch den Frontmann so gefördert wird, dass das Publikum sich zu tosendem Applaus hinreißen lässt. Am Ende gibt es Standing Ovations (!) und absolute Begeisterung – so einen fantastischen ersten Auftritt in einem fremden Land dürfte noch kaum eine Band gespielt haben.
Setlist: Why We Chose To Die In Berlin / Chaos / Turn Black / Vampire Lovers / The Loop Sin
Für New Order wird es nun natürlich schwer, diese Dampfwalze von mächtiger Musik, die sie selbst ausgewählt haben, zu übertreffen, was sie um 21:05 Uhr mit dem Start ihres Auftritts und „Singularity“ versuchen. So viel vorweg: es gelingt nicht. Dabei ist der Beginn noch wahrlich überwältigend, die große Leinwand beeindruckt genauso wie der kräftige und laute Sound, einzig der Frontgesang von Bernard Sumner ist von Anfang auch recht matschig und undeutlich – was nicht an Sumner selbst liegt, der die Töne gekonnt trifft. Nur bei den extrem kurzen, seltenen Ansagen, die lieblos am Mikrofon vorbeigeredet werden, versteht man absolut gar nichts mehr. Der aufgestandenen Menge ist das egal – Hauptsache Musik, Hauptsache Tanzen.
Doch genau dann hapert es: an der Liederauswahl, der Setlist. Im Gegenzug zur vorherigen Show werden drei Lieder rausgestrichen und nicht ersetzt, einige Klassiker müssen für belanglose Lückenfüller wie „Fine Time“ und „Superheated“ weichen, was wiederum darin endet, dass der Mittelteil schnell recht eintönig und anstrengend wird. Die dabei maßlos übertriebene Stroboskop-Lichtshow und nur selten wirklich motivierte Band tun ihr Übriges, dass die Rückkehr von New Order nach München nach satten 35 Jahren mit etwas fadem Beigeschmack daherkommt. Keine Frage, die Klassiker wie „True Faith“ und „Blue Monday“ haben nichts an Genialität verloren, auch das abschließende „Love Will Tear Us Apart“ berührt immer noch. All das täuscht aber nicht über eher wenig beeindruckende 95 Minuten Konzert hinweg, in denen immer gespielte Joy Division-Klassiker grundlos aus der Setlist weichen mussten. So bedeutend diese Band auch ist, so selten sie hierzulande zu sehen sind – es bleibt ein Abend, der die hohen Erwartungen nicht erfüllen konnte.
Setlist: Singularity / Restless / Ceremony / Disorder (Joy Division) / Your Silent Face / Superheated / Tutti Frutti / Subculture / Bizarre Love Triangle / Fine Time / Plastic / True Faith / Blue Monday / Temptation – Zugaben: Atmosphere (Joy Division) / Love Will Tear Us Apart (Joy Division)
Bericht: Ludwig Stadler