Frank Castorf inszeniert an der Bayerischen Staatsoper – was für eine Meldung! Da war es auch schon abzusehen, dass er sich nicht an Wagner, Verdi oder Strauss versucht, sondern stattdessen ein unbekanntes Stück, „Aus einem Totenhaus“, auf die Bühne bringen will, das nicht nur keine leichte Kost, sondern fast einer Grenzerfahrung gleichkommt. Am Pfingstmontag hatte das Gefängnis-Drama Premiere – amüsanterweise in bester Lage, direkt neben Münchens teuerster Straße, der Maximiliansstraße, in dem wunderschönen und glänzenden Nationaltheater. Vielleicht sind es genau diese Gegensätze, die es braucht, um die Intensivität zu begreifen.
Schon als sich der Vorhang öffnet, überkommt einem Castorfs Handschrift: das immer ähnliche Bühnenbild von Kollege Aleksandar Denič, das Spiel mit visueller Live-Übertragung und tausend Ideen, die alle untergebracht werden müssen. Leoš Janáčeks Oper „Z mrtvého domu“ allein ist aber schon durch die außergewöhnliche Musik mit ebensolchen außergewöhnlichen Instrumentarien, wie Rasseln und Ketten, so schwermütig und vielfältig, dass es das alles eigentlich gar nicht bräuchte. Das Bayerische Staatsorchester unter Simone Young dürfte auch garantiert der Gewinner des Opern-Frühabends sein, denn die Wucht und Kreativität, mit der die dramatische und zwar mit Dissonanzen verzierte, aber überraschend ertragbare Musik dargeboten wird, sucht ihresgleichen. Wenngleich manchmal auch ein Gang runter die klügere Wahl gewesen wäre, schreien sich doch Tenor Charles Workman als Skuratov wie auch Bo Skovhus als Šiškov die Seele aus dem Leib.
Das größte Problem der Inszenierung, aber dadurch auch ihre angenehmste Stärke, ist die Dauer des Werkes. 100 Minuten, dann ist Schluss, das ist für Castorf-Verhältnisse maximal ein Auftakt. Hier muss er aber nun seine Ideen, Gedanken und Visualisierungen in dieser kurzen Zeit umsetzen und macht dabei den einen riesigen Fehler: keinen Gedanken wegzulassen. Abertausende Anspielungen, mehrere Geschehnisse und Handlungs-Fortläufe zeitgleich – eine absolute Reizüberflutung, die bewirkt, dass man anstatt des aufmerksamen Aufpassens nur noch abschaltet und versucht, irgendwie die entwickelte Atmosphäre einzufangen, die Dostojewski mit seinen „Aufzeichnungen“ erreichen wollte. Leider brechen innerhalb der Kürze solche Szenarien wie das Nachspielen zweier Bühnenwerke in Form einer Travestie-Show den Handlungsfluss so vollkommen, dass man ernsthaft wieder beginnt, Theater-Regisseure zu verfluchen, die an Opern rumwerkeln. In etwa der Mitte trägt übrigens ein Gefangener einen Hecht über die Bühne. Einfach so, ohne Zusammenhang oder sinnvolle Deutungsmöglichkeit. Weniger wäre hier wirklich mehr gewesen.
Und dennoch ist das Stück, aber auch genau die Inszenierung absolut nötig gewesen – denn sie ist schmutzig, dreckig, schwer zu ertragen und kaum anzusehen. 100 Minuten Qual und Leid, kaum hoffnungsvolle Momente. Die verschiedenen Nebengeschichten – kaum zu greifen, so kurz werden sie nur angeschnitten – bieten kaum Perspektive, befassen sich mit den Schicksalen der Häftlinge und tragen nur weiter zur düsteren Stimmung bei. Da spucken Darsteller Blut auf die Bühne und verschmieren es, andere prusten und versabbern ihren Alkohol. Und genau das ist er, dieser angenehme Kontrast zu all den Hochglanz-Stücken von Verdi, Wagner, Pucchini und wie sie alle heißen, bei denen der Tod das tragische Ende bedeutet. Bei „Aus einem Totenhaus“ ist er lediglich die Ausgangslage für viel Schrecklicheres.
So ist die Inszenierung zwar zu viel von allem und unterdrückt das Stück eher, anstatt das Potential auszuschöpfen, dennoch schafft es Frank Castorf, mit seinem Debüt an der Bayerischen Staatsoper durch einen schmutzigen Paukenschlag den Spielplan ordentlich wachzurütteln. Bitte auch in Zukunft solche Experimente nicht auslassen, auch wenn sie wehtun!
Kritik: Ludwig Stadler
Besuchte Vorstellung: 3. Juni 2018