Seitdem Giuseppe Verdi seine Oper „Aida“ im Jahr 1871 abgeschlossen hatte, war er auch mit dem Schaffen neuer Opern vorerst am Ende. Sein Verleger Giulio Ricordi wollte das aber noch nicht so leicht hinnehmen, zu jung war Verdi, um schon endgültig das Handtuch des Komponierens zu werfen. So gelang es, dass der Komponist mit Librettist Arrigo Boito zusammenfand und im hohen Alter seine wahrscheinlich beeindruckendsten Musikwerke komponierte – unter anderem auch den „Otello“, der seither als einer bedeutendsten (und zugleich schwersten) zu erklimmenden Gipfel jedes Spielplans gilt, sollte man sich für die Aufnahme des Opus entschieden haben. So hat sich nun auch die Bayerische Staatsoper an eine Neuinszenierung gewagt – 130 Jahre nach der deutschen Erstaufführung in eben diesem Theater.
Als die Ankündigung des „Otello“ als erste Neuproduktion der Spielzeit erfolgte, war das Staunen groß, bedenkt man das irrsinnig hochwertige Kreativ-Team, das sich um die Umsetzung kümmerte: Kirill Petrenko als Musikalischer Leiter des Staatsorchester, Amélie Niermeyer als Regisseurin. Letztere hat nun vor allem in Bezug auf die Besetzung eine weitere Herausforderung, denn Jonas Kaufmann spielt die Titelfigur, erst zum zweiten Mal in seiner Laufbahn und ein Jahr nach seinem Debüt am ROH in London. Dort trat er als überzeugter Feldherr in Erscheinung – sollte man exakt das also nun in München wiederholen? Nein, dachten sich wohl Niermeyer und ihr Team, und entschieden sich, den Fokus auf libretto– und handlungsabhängigen Ansätzen zu legen, weniger auf das exakte, textbezogene Setting. Ein gewagter und bereits vielfach kritisierter Schritt – aber ein äußerst gelungener, wie sich herausstellen sollte.
Bereits die Anfangsszene eröffnet den Ansatz: ein Schlafzimmer schwebt innerhalb eines noch größeren, ähnlich aussehenden Raumes, der ab der Ankunft Otellos als Handlungsplatz gelten wird – bis zur absoluten Eskalation. Immer dann, wenn Desdemonda, ihres Zeichens Otellos liebende Frau, sich isoliert und einsam fühlt, verkleinert sich die Räumlichkeit, auch geht sie in den verschiedenen Akten immer dann in den hinteren, externen Abteil des Bühnenbilds, nicht aber in den konstanten, den der wildgewordene Feldherr belagert. Nur zweimal bricht Otello in diese verletzliche Intimität Desdemondas ein: bei seiner Rückkehr, welche den Raum öffnen lässt – und seinem aus Eifersucht und Aggressivität ausgeführten Mord, der den Raum für immer schließt. Die nur liebende Desdemonda hat keine Chance, sich ihrem wutentbrannten Ehemann zu erklären – und wenn doch, hört er nur auf das Gerücht, nicht auf ihre Ehrlichkeit. Das Pendant des Wutbürgers? Es passt zur Inszenierung.
Denn Kaufmann als Otello sieht nun wahrlich nicht aus wie ein heroischer und siegreicher Feldherr – eher wie ein müder, erschlaffter Beamter, der im monoton den ganzen Tag Bürgerbegehren beantworten muss, bevor er nach Hause darf, und sich von wirklich jeder Aussage erzürnen lässt. Im direkten Gegensatz steht Jago, der Fähnrich des Feldherrn, wunderbar diabolisch gespielt von Gerald Finley, der seine Intrigen spinnt, die tödlichen Ausgang beinhalten. Der Grund: eine fehlende Beförderung. Recht trivial – allein das macht ihn vielleicht zur bösartigsten Figur in der Operngeschichte. Desdemonda, verkörpert von Anja Harteros, muss darunter leider und fällt dem blind gewordenen Otello zum Opfer – ein tragischer Ausgang für das Opern-Traumpaar Harteros und Kaufmann. Am Ende liegt Otello sterbend und blutverschmiert am Bett, seiner schrecklichen Tat nachtrauernd – irgendwie doch ein wenig klischeehaft.
Hat man jedenfalls die Tatsache verinnerlicht, dass wir es hier mit feinfühligem Regietheater zu tun haben, und natürlich den Schock über die fehlende Lockenpracht Kaufmanns (keine Angst, nur eine Perücke), die amüsanterweise für mehr Diskussionsbedarf als die Inszenierung selbst führte – man ist absolut gebannt. Petrenko und das Staatsorchester spielen passend impulsiv, aber in den richtigen Momenten erschreckend verletzlich, das Protagonisten-Trio überzeugt gesanglich nicht nur, sondern ringt mit ihrer Leistung um Bezeichnungen, denen vielleicht nicht einmal Superlative gerecht werden. Musikalisch erleben wir also einen „Otello“ allererster Klasse – aber auch schauspielerisch. Selten können Kaufmann und Harteros spielerisch so viel miteinander agieren. Am Ende des ersten Aktes, wenn Otello sich Desdemonda öffnen möchte, aber es nicht kann – er wirkt wie ein schüchterner, pubertierender Teenager, dessen Zurückhaltung aber nicht die Scham, sondern die Verletzung des Krieges begründet. Das Kostüm Kaufmanns tut sein Übriges: Anzug mit Hemd und Krawatte, wie der Großteil des Publikums. Otello – das könnte ein jeder von uns sein.
Kritik: Ludwig Stadler
Besuchte Vorstellung: 10. Dezember 2018