Es herrschten andere Zeiten, als Maxim Gorki 1905 das Stück „Kinder der Sonne“ schrieb – Krieg, Cholera-Epidemie, eine aufstrebende Wirtschaft. Als Eröffnungspremiere zur neuen Spielzeit hat sich das Residenztheater eben jenes Stück ausgesucht und dabei ein Werk zwischen absoluter Leichtigkeit und massiver Hintergründigkeit ausgewählt. Die Premiere am 23. September war restlos ausverkauft, die Audienz sichtlich froh über den Beginn der neuen Spielzeit.
„Pawel, bist du sehr unglücklich?“ fragt Jelena ihren Mann Protassow. Und das Licht geht aus. Es sind diese kurzen Momente, die einen wieder aus der sonst eher recht lustigen Dialog- und Situationskomik reißen; gegen Ende sollten sich diese Momente maximieren und bis aufs Äußerste steigern.
Oberflächlich betrachtet ist „Kinder der Sonne“ eine amüsante Komödie mit einer äußerst gelungenen Figurenkonstellation. Die verschiedensten Charaktereigenschaften treffen aufeinander und sind, wie so oft, durch Liebeleien miteinander verknüpft und bringen sich gegenseitig in zu erwartende, aber amüsante Situationen. Das alles ist nichts Neues und war es schon damals nicht; selbst mit dem wahrscheinlich inzwischen etwas angestaubten Cholera-Bezug wird das Werk nicht kreativ oder innovativ, geschweige denn besonders. Besonders wird es erst bei der Frage, was die Darsteller verkörpern und wollen, wie ihre Einstellungen sind. Protassow sieht den Menschen als gutes Wesen, er sieht den Menschen auf den Weg zur nächsten Ebene, der Menschheit; oft bezeichnet er die Menschen als „Kinder der Sonne“, letztendlich auch der Titel des Stücks. Als Gegenpol zu ihm steht seine erkrankte Schwester Lisa, die das Leben als eine Ansammlung negativer Eigenschaften, die sich gegenseitig im schlechtesten beeinflussen, sieht. Die Dinge, die ihr Bruder und andere als schöne Eigenschaften sehen, sieht sie als „Blumen in einem düsteren Wald voll von Verwüstung und Verwesung“. Um sie herum Charaktere, die entweder in die Extreme gehen oder in der Belanglosigkeit versinken.
Das Ensemble, so abgedroschen wie es klingen mag, wusste durchweg absolut zu überzeugen. Norman Hacker in der Rolle des Protassow als dusslig-liebenswürdiger Professor, überrascht das Resi-Stammpublikum in einer Rolle, die nicht der Unsympath oder Bösewicht ist. Die pure Naivität stellte sich bei den großartigen Dialogen mit Jelena, gespielt von Hanna Scheibe, heraus. Seine Schwester Lisa, dargestellt von Mathilde Bundschuh, mimte die fast schon depressive Leidensfigur im anfangs etwas eindimensionalen Spiel, später in überwältigenden Monologen grandios, ebenso ihr Verehrer Till Firit, der die Rolle des Boris innehatte. Ihm kam vor allem der komödiantische Anteil zu, die meisten Publikumslacher lagen auf seiner Seite. Ebenso als zwar belangloser und blasser, aber die Stimmung zerreißender Charakter: Max Koch als Mischa. Als er im 2. Akt lachend-amüsiert eine Todesnachricht in einer eisigen Stimmung der Protagonisten brachte, war das der vielleicht skurrilste, aber zwischenmenschlich am besten getroffenste Moment der Vorstellung.
David Bösch, bekannt für seine gelungenen Inszenierungen am Residenztheater wie u.a. „Glaube Liebe Hoffnung“, aber auch für umstrittene wie Wagners Meistersinger an der Bayerischen Staatsoper, wagte sich hier an Gorkis Schaffen während seiner Zeit in Gefangenschaft. Das Geschehen transportiert er hierbei an einen Fleck, dem Wohnraum von Protassow, dargestellt als heruntergekommenes Haus, voll von Schriften und diversen Zeichnungen. Es wirkt ein wenig wie ein WG-Wohnzimmer, ein Treffpunkt allerlei Menschen, ein Pol menschlicher Interaktionen und eben solcher Reaktionen. Ohne große Modernisierungen hätte das Geschehen problemlos in die jetzige Zeit gepasst, einzig der oftmalige Cholera-Bezug hat diese Vision gebrochen.
Es ist ein Kampf, der auf immer engeren Raum ausgetragen wird, wenn sich das Kämpfen um Affären und vor allem der eigenen Identität irgendwann nur noch als Vorwand und Selbstherrlichkeit herausstellen, während die Mitmenschen in all ihrer Einzigartigkeit nicht mehr wahrgenommen werden. Simple Plaketten und Stempel werden den Menschen verpasst, selten, dass dieses Meinungsbild hinterfragt wurde, niemals, dass das eigene Bild angehört wird. Wenn die Personen sich gegenseitig das Herz ausschütten, aber keiner vom anderen das hören möchte, stellt sich ein ewiger Kreislauf des Davonlaufens auf.
Gegen Ende des Stückes platzt die eigene Seifenblase, die die Herrlichkeit des Lebens preist. Die Tatsache, wie sie zum Platzen gebracht wird, ist imposant, unerwartet und verpasst der Inszenierung fraglos den Stempel „gelungen“. So kann man nur mit den Worten von Lisa zu Protassow über den seine Frau verprügelnden Schlosser Jegor abschließen: „Ist er denn auch ein Kind der Sonne?“
TICKETS für die Folgevorstellungen gibt es HIER.
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