Minimalismus ist auch möglich – Hélène Grimaud in der Philharmonie (Kritik)

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Umweltaktivistin, Autorin – und ganz nebenbei eine der erfolgreichsten Pianistinnen der Gegenwart: die Französin Hélène Grimaud meistert all diese Tätigkeiten scheinbar mühelos. Im Rahmen ihrer Memory-Tour machte sie am 20. Mai 2019 auch in der Münchner Philharmonie mit einem Solokonzert Station.

Der erste Teil des Klavierabends entspricht beinahe der Setlist von Grimauds jüngster CD Memory – eine Kollektion eleganter Klavierminiaturen von Valentin Silvestrov, Claude Debussy, Frédéric Chopin und Erik Satie. Keine Virtuosenstücke, so viel ist sicher, aber jedes für sich ein komprimiertes Musikuniversum.

Die Bagatelle I des ukrainischen Komponisten Silvestrov eröffnet das Konzert in der Münchner Philharmonie. Hélène Grimaud beginnt unfassbar leise mit den minimalistischen Melodien der Bagatelle. Eigentlich ist das Stück ein toller Einstieg in den Abend, da es meditativ-besinnlich zur Einkehr und Ruhe anregt – oder anregen sollte. Leider ist das Publikum extrem unruhig, abwechselnd stören laute Huster und Handyklingeln die sensiblen Pausen und so klappt es nicht mit der Einstimmung auf die kommenden Stücke.

Darauf folgt die Arabesque Nr. 1 von Claude Debussy, eines seiner frühen Werke. Durch die allzu freie Spielweise von Grimaud wird diese jedoch stark auseinandergerissen und schwer nachvollziehbar. In späteren Stücken verschleiert der Komponist zwar absichtlich den Rhythmus, u. a. durch exzessives Überbinden der Noten in den nächsten Takt. Doch diese fließende Arabesque verträgt definitiv einen gewissen regelmäßigen Puls. Eine grundsätzliche Angewohnheit der Pianistin, die besonders in diesem Stück auffällt, ist es, das Pedal erst kurz nach dem Anschlag eines Akkords zu wechseln, was teils interessante Effekte bringt, meistens aber einen intransparenten Klangbrei bewirkt. Die Arabesque führt also zu innerer Unruhe, welche die Gnossiennes Nr. 1 und 4 des eigenwilligen Komponisten Erik Satie aber schnell beseitigen können. Die sphärisch-jazzigen Anklänge, jetzt strenger im Metrum gespielt, erzwingen förmlich die Transzendenz.

Das wohl berühmteste Stück des Impressionisten Debussy ist auch im Programm vertreten: der dritte Satz aus der Suite Bergamasque, Clair de Lune. Besonders der Mittelteil mit den wellenartigen Arpeggien begeistert: er gerät nicht so zaghaft-verhuscht wie in vielen anderen Interpretationen, sondern sehr prachtvoll und leuchtend – wie Mondlicht eben.

© Mat Hennek / DG

Debussys Reverie beginnt sehr sanft und klar, mit ausgewogenem Rubato und filigraner Dynamik. Als im Mittelteil die Melodielinie in die linke Hand wechselt, ist diese jedoch nicht mehr nachvollziehbar, vielmehr lässt Grimaud oszillierende Klangflächen entstehen, welche die Harmonien wieder offenbaren, die zum Wohle der Melodie oft vernachlässigt werden.

Nachdem die erste Hälfte des Rezitals sehr ruhig und fast meditativ verlaufen ist, folgt nach der Pause Robert Schumanns Kreisleriana. Dieser komplexe Klavierzyklus, inspiriert von E.T.A Hoffmanns gleichnamigen Geschichten über den Kapellmeister Kreisler,  besteht aus acht Stücken, die sich auf engem Raum äußerst kontrastreich gegenüberstehen. Auf sanglich-innige Momente folgen impulsiv-zerrissene Ausbrüche. Und wie Grimaud bei letzteren explodiert! Überschäumend vor Spielwut und Virtuosität durchbricht sie immer wieder die warmen, tröstlichen Kleinode. Großartiges Volumen erhält das Werk durch ihre stets betonte Herausarbeitung der Basstöne, großartige Musikalität und Empfindsamkeit für die langsamen Sätze verleihen ihm die charakterisierende Färbung, die Schumann bewusst einkomponiert hat – stellt die Kreisleriana doch ein Selbstporträt des Romantikers dar.

Um Zugaben lässt sich Madame Grimaud nicht lange bitten, gleich drei schenkt sie dem Münchner Publikum, darunter Breathing Light von Nitin Sawhney und Sergej Rachmaninoffs temperamentvolle Etude tableau op. 33 Nr. 1.

Grundsätzlich wird man zweifellos immer belohnt, besucht man ein Konzert von Hélène Grimaud, gerade, wenn man experimentelle Konzepte abseits des regulären Konzertbetriebs sucht und offen gegenüber unkonventionellen und dennoch niveauvollen Interpretationen ist. Allerdings ist die Philharmonie für ein so intimes Programm wie das der ersten Hälfte des Abends deutlich zu groß – ein Saal wie das Prinzregententheater böte eine passendere Atmosphäre, um die zerbrechlichen Stücke optimal zur Geltung zu bringen.

 

Programm:

Valentin Silvestrov: Bagatelle op. 1/1

Claude Debussy: Arabesque Nr. 1

Valentin Silvestrov: Bagatelle op. 1/2

Erik Satie: Gnossienne Nr. 4

Frédéric Chopin: Nocturne Nr. 19 op. 72/1

Erik Satie: Gnossienne Nr. 1

Erik Satie: Danse de travers Nr. 1 – „En y regardant á deux fois“

Claude Debussy: La plus que lente

Frédéric Chopin: Mazurka op. 17/4

Frédéric Chopin: Valse brillante op. 34/2

Claude Debussy: Clair de lune

Claude Debussy: Reverie

Erik Satie: Danse de travers Nr. 2 – „Passer“

— Pause —

Robert Schumann: Kreisleriana op. 16