»Die Zeit ist aus den Fugen« – »Hamlet« im Residenztheater

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Hamlet im Residenztheater: ist Theater über Theater; ist inwendig eine Reflexion über das, was und wer da eigentlich spricht, wo die Bühne aufhört und das ›Wirkliche‹ anfängt; ist äußerlich eine (Macht-)Demonstration, über das, was, was Theater kann, über das, was in fast 200 Tagen kulturellen Lockdowns abging; ist rein quantitativ ein gewaltiger, plusdreistündiger Brocken von einer Inszenierung, der am Donnerstag, den 13. Mai Premiere feierte.

© Birgit Hupfeld
© Birgit Hupfeld

Ein serifenloses ›Ich‹ auf ungreifbaren Hintergrund begrüßt die vereinzelte Zuschauerschar: Ausgangspunkt, Heilsversprechen, Verblendung, Größenwahn der Moderne; alles- und nichtssagende Antwort auf die Frage »Wer da?« (mit der das Stück beginnt); sich besinnender Beginn einer Auskunft oder Aussage oder Ansage über das Ich, das da spricht. Aber was wird denn Hamlet, und besonders der Hamlet, den Johannes Nussbaum unter der Regie Robert Borgmanns zur Schau stellt, der große Zweifler und Verzweifler an Worten, von sich aussagen? Dass er hier stehe und anders nicht könne, als den Mord am Vater zu rächen, als Gerechtigkeit vom thronräuberischen Onkel (Christoph Franken) und der zur Verräterin verschwächelten Mutter (Sibylle Canonica) einzutreiben, wo doch das Fallen, das Sich-Niederlegen eine viel zu reale Möglichkeit ist, als dass noch an ein festes Vorrücken geglaubt werden könnte?

© Birgit Hupfeld

In einer milchigweißen Zwischenwelt, die immer wieder ins Unwirkliche, Unscharfe abgleitet (Bühne: Robert Borgmann & Jonas Vogt) entspinnt sich das Katz- und Mausspiel am dänischen Königshof: Der Versuch Prinz Hamlets und seines einzigen Vertrauten Horatio (lakonisch Arendt-haft Kata Jung), die Intrige, der der alte König, Hamlets Vater, zum Opfer gefallen ist, aufzuklären. Die in die Öffentlichkeit gebrachte Ophelia-Affäre. Hamlets Zorn, Hamlets schwarze Galle; das Stelzen und Falschspielen der höfischen Mannschaft, des Claudius, des Polonius (Max Mayer), der Handlanger Rosencrantz (Florian von Manteuffel) und Guildenstern (Lukas Rüpel). Doch was ist es, was der Geist des Vaters, unvergleichlich gemimt von Michael Gempart, dem Hamlet einflüstert? Wenn es das Geheimnis des Mordes ist, dann ist es eines, das sich in der Sprache des Wachens und des Tages nicht ausdrücken lässt, von dem am Morgen nichts als die Erinnerung an eine Melodie und ein gewisser (kriegerischer) Impetus verbleit – Hamlets Feldzug ist einer, der gegen die verlogene Logik seiner Umwelt anrennt, der die gemütliche Hinterwelt der Worte einreißen will, wo es klare Grenzen zwischen Sprecher und Gesprochenem, zwischen Darstellung und Dargestelltem, zwischen Wirkung und Ursache, wo es gute Gründe und gesunden Menschenverstand gibt.

© Birgit Hupfeld

Und Erfolge zeigt dieser Feldzug: Immer mehr kollabiert die Logik des Hofs, und immer mehr kollabiert auch die Logik des Theaters selbst, Risse, Ausfallerscheinungen häufen sich; aus Max Mayer, der den schwadronierenden Polonius gibt, wird Max Mayer, der den um Text ringenden Max Mayer gibt, aus dem dänischen Hofstaat wird eine durch die Reihen des Publikums tobende Schauspielergruppe, die einen immensen Gummi-Elefanten durch die Luft wirft: das Spiel der reinen Freude, dass es jetzt endlich wieder losgeht, dass die Theaterschließung ein Ende hat. Die sich zunächst noch recht treu an den Handlungsablauf und Text des Shakespeare-Werks haltende Inszenierung geht immer mehr in ein krudes Singspiel über, doch ohne sich je zu verlieren. Vor allem die zweite Hälfte des Abends gestaltet sich als ein abwechselnd guter und schlechter Trip, während dem das Zusammenspiel von Bühnenbild, Musik (Rashad Becker, Valerio Tricoli), Licht und Videoinstallationen (Krzysztof Honowski) sich als wahrhaft überragend beweist. Da ist die albtraumhafte und visuell überwältigende ›Theateraufführung‹, mit der Hamlet den Claudius des Mordes überführt, da ist der Abgang der vieldeutigen Ophelia (Linda Blümchen) im Nico-haften Deklamier-Singsang, da ist allgemeines Gelächter, wenn die Diplomatie des Claudius sich alsbald als »AHA AHA AHA« und »DA DA DA« entmäntelt.

Es endet, nicht mit dem Duell zwischen Laertes und Hamlet, sondern, wie nur passend, mit dem Tod des Spaßmachers, mit dem Schädel des einstigen Narren des Königs, der als ein Menetekel aus der Friedhofserde aufgeworfen wird. Auch dies eine Mahnung, vielleicht auch nur eine Klage: Die Aus oder Stummschaltung der Narren, die Unterwerfung der ›inneren Ausländer‹, wie auch Hamlet einer ist, produziert als traurigen Rest nichts als Schweigen; wer das Namenlose, das Andere, den ›dunklen Grund‹ aller Identität nicht aushalten und austragen kann, verliert sich im luftleeren Raum, wo zwar alles begriffen, aber nichts mehr lebendig ist.

Kritik: Tobias Jehle