Fakt vor Fiktion – „Es waren ihrer Sechs“ im Marstall (Kritik)

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Alfred Neumanns Roman „Es waren ihrer Sechs“ hat bei seiner Veröffentlichung 1945 hohe Wellen geschlagen. Aus dem Exil in Amerika heraus erzählt er die Geschichte der Geschwister Möller, die biografisch an die Geschwister Scholl angelegt sind, aber mit allerlei Einflüssen verfremdet werden. Der Grad zwischen Fakt und Fiktion ist der Grund für die Empörung, auch Jahre später. Selbst heute, über 75 Jahre später, bleibt es heikel, das Thema um Die weiße Rose nicht vollumfänglich geschichtsgetreu aufzuarbeiten. Genau dieses Spiel, diese Verzerrung, ist Anlass für Michał Borczuchs Neuinszenierung von „Es waren ihrer Sechs“, die am 8. Oktober 2021 im Marstall des Residenztheaters Premiere feiert.

© Sandra Then

Sensibel ist das Thema der Geschwister Scholl nicht nur wegen der Vergangenheit, die in Deutschland schwer lastet und immer schwer lasten wird und muss, sondern auch für die Zuschauer*innen. Immer wieder führt es vor Augen, was es als Rebellion gebraucht hätte – und immer wieder wird klar, dass niemand im Zuschauersaal derartiges getan hätte. Dennoch ist die Geschichte der Weißen Rose vielleicht auch als Wegbereiter zu sehen. Neumann sieht den Roman selbst nicht als Nacherzählung, eher als freie Wahl über Rebellion, die so immer wieder geschehen kann, geschehen wird, geschehen muss. Protest, das ist in Zeiten des Internets oft ein leichtes. Rebellion und Revolution sind aber weiterhin ein Kampf.

© Sandra Then

Borczuchs konzentriert sich auf Neumanns Idee des Immerwährenden und setzt auf beides: Fakt und Fiktion. So bietet die Inszenierung auch immer zwei Aspekte: Film und Theater, Figuren und Schauspielende, Empörung und Sensibilität. Das Bühnenbild erinnert an ein Filmset, besteht aber aus allerlei Requisiten, die im Laufe der rund 90 Minuten irgendwo Verwendung finden. In der Mitte: mit blauen Tüchern bedecktes Gerümpel, eine Hommage an Caspar David Friedrichs „Das Eismeer“. Darüber eine Leinwand, die einen Mix aus vorgedrehten Filmausschnitten zeigt, aber auch Live-Kamera integriert. Am eindrucksvollsten: Sequenzen aus Demonstrationen aus der ganzen Welt – das Erbe von Sophie Scholl und ihren Mitstreiter*innen.

© Sandra Then

Am Ende unterteilt sich dann aber auch die Inszenierung in zwei Teile: Hoch- und Tiefpunkte. Denn zwischen all diesen kreativen und genialen Einfällen fehlt zu oft die Struktur, zu überladen wirkt es, zu selten wird einem wichtigen Monolog Raum gegeben. Als Luana Velis ausführlich über ihre Familiengeschichte und dem musikalischen Protest ihres Vaters gegen die Pinochet-Diktatur in Chile spricht, lauscht man gebannt. Und doch wird es anschließend so jäh unterbrochen, dass eine Verarbeitung des Gesagten kaum möglich ist. Womöglich sind es aber auch nur genau diese Fragmente, die man selbst inmitten des ganzen Geschehens in der Welt noch aufnehmen kann. Das ist am Ende so dominierend, dass die Schauspieler*innen über den Abend nur ausführendes Beiwerk werden, etwas erdrückt unter der Last der Handlung.

Chronologisch geht der Abend nicht vor, aber dennoch beginnt er mit den Anfängen des Romans und endet mit der Hinrichtung. Der Weg dahin ist steinig und gefüllt mit Momenten, die im Kopf bleiben, sei es die Fleißaufgabe von Niklas Mitteregger, 82-mal „Vergesst nicht, dass ein jedes Volk diejenige Regierung verdient, die es erträgt“ zu sagen, oder die Tanz-Aerobic-Übungen von Valentino Dalle Mura, der als Hans sein neues Bein trainieren mag. So richtig in sich schlüssig wird das leider alles nicht und ohne Vorkenntnisse des Romans dürfte man maßlos verloren im Marstall sitzen. Die Bedrückung erzeugt dann aber doch das Ende, dass sich ganz den Fakten widmet und vor die Fiktion stellt: die sechs Mitglieder*innen schreiten gen Vollzug des Todesurteils. Eine Stunde nach dem Mord an sechs jungen Menschen versammelten sich 75% der Immatrikulierten der LMU im Lichthof und bejubelten den Tod der Widerstandskämpfer. Dort, wo nicht allzu lange davor noch das Flugblatt der Weißen Rose am Boden gelegen hatte, stampfte nun ein Gleichaltriger euphorisiert über den Mord der Verfasser*innen dessen. Am meisten schmerzen dazu die Worte kurz vor der Enthauptung:

„Wer weiß, wie viele sechs es da draußen gibt? Vielleicht sechzig oder sechzigtausend. Oder sechs Millionen.
Oder einfach nur sechs.“

Kritik: Ludwig Stadler