Was ist das in uns? – »Dantons Tod« im Residenztheater (Kritik)

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© Sandra Then

Es ist Freitagabend, der 30. Oktober 2020, im Residenztheater feiert die umfangreiche Inszenierung von Georg Büchners »Dantons Tod« Premiere. Doch kurz vor Beginn herrscht im Foyer noch gähnende Leere. Über vereinzelten Gestalten treffen sich die freundlichen Blicke der Resi-Mitarbeiter*innen. Nur 50 Zuschauer*innen sind Corona-bedingt zugelassen, am Folgetag, den 31. Oktober wird das Stück noch zweimal aufgeführt, ehe der Spielbetrieb den ganzen November über eingestellt werden muss. 200 Zuschauer*innen mögen noch eine kleine Menge bilden, ein Publikum, das einer Eigendynamik folgt und in seiner anonymen Präsenz (seinem Namen entsprechend) eine Öffentlichkeit stiftet; eine Öffentlichkeit, die den einzig möglichen Raum für Worte und Taten, Gesten und Gedanken von Überlebensgröße bildet. Hier können wir uns selbst so weit vergessen, dass wir unsere eigene Perspektive einmal ablegen und die des Schicksals selbst einnehmen können. Indem wir uns selbst aus dem Blickfeld verlieren, können wir einen Blick auf die Unerbittlichkeit des Weltlaufs wagen, den wir uns sonst, aus unserem Interesse an der Welt und an unserem eigenen Leben und Überleben in ihr, keinesfalls erlauben können, und in Furcht und Mitleid mit den Helden der Tragödie erschauern. Doch 50 Menschen sind nahe daran, keine Öffentlichkeit mehr zu bilden; immer wieder treten die Individuen aus dem Schatten der Mini-Menge heraus. So wird das passive Publikum zu Einzelpersonen, die fast auf dieselbe Weise an dem Geschehen dieses Abends beteiligt sind wie die Schauspieler selbst.

Ein Experiment, wenn auch gerade nicht in dem Sinne, in dem es sich Resi-Chef Andreas Beck gewünscht hätte: Nicht vor wie vielen Zuschauer*innen Theater unter den gegenwärtigen Umständen möglich ist, sondern vor wie wenigen Zuschauer*innen Theater – von den Ausmaßen wie Sebastian Baumgartens Danton – überhaupt möglich ist. Dies ist insbesondere deshalb pikant, weil in Büchners Stück selbst das Volk, die Masse eine so bedeutende wie ambivalente und fragwürdige Rolle einnimmt. Das Volk, dem durch den Gewaltreigen der Französischen Revolution nach dem Willen ihrer Anführer zu einem menschenwürdigen Dasein verholfen werden soll, das sich in seinen Einzelteilen immer wieder als ein Haufen armer Elender entpuppt, die nichts anderes begehren als Ruhe und dass das schlimmste Hungerleiden ein Ende habe. Das Volk, das andererseits den blutdürstigen Mob konstituiert, dem das Tragen eines falschen Kleidungsstücks Grund genug zum Lynchmord ist. Doch das Volk tritt als solches kaum je in Erscheinung in Baumgartens Verarbeitung des Büchner-Stoffes. Mit abgeschlagenem Kopfe fällt das Denken und somit auch Reden schwer, und unter dem Andruck der leiblichen Not ebenso. Das Reale, das notwendig über die auf der Bühne gesprochenen Worte hinaus liegen muss, das sich aber über Gefühle (eben Furcht, Mitleid) ankündigen kann, findet, der Aufführungssituation geradezu angemessen, in diese Inszenierung keinen Eingang. Man kämpft mit Worten um Worte, ringt um die Idee der Freiheit, der Republik, des Volkes, des Blutes, des Todes. Man kämpft mit hölzernen Schwertern, die kaum jemals in scharfe Klingen umzuschlagen scheinen, was einerseits die Fadheit des bloß Gedanklichen in sich trägt, andererseits entlarvenden Charakter hat: Die eherne (tragische) Notwendigkeit, mit der sich das Schicksal entspinnt, mit der der Weltgeist seine Opfer einfordert – ist selbst nur ein Begriff, beinah schon eine Floskel im Munde derer, die ihn gebrauchen und in seinem Namen befehlen, dass das Wort Fleisch werde und Köpfe koste. Sichtbar ist nicht die Idee der Freiheit, um derentwillen die Guillotine nimmer still steht, sondern die Freiheit derer, die im Namen der Idee Verbrechen begehen.

© Sandra Then

Da ist das mehrstöckige, sich um sich selbst drehende Gebäude, dessen eine Seite das Quartier des Mord- und lebensmüden, reichlich verlotterten Revolutionsführers Danton (Florian von Manteuffel) und seiner Gefährten bildet, während auf der gegenüberliegenden Seite Dantons ehemaliger Mitstreiter, ein reichlich sowjetöser Maximilien ›Maxim‹ Robespierre (Lukas Rüppel), dessen ideologischer Fanatismus in den Tiraden seines Einflüsterers Saint-Just (Carolin Conrad) gänzlich von allen humanen Restbeständen gesäubert wird. Robespierres Credo ›Tugend durch Terror‹ duldet keine Kompromisse, kein Ende der Revolution, bis nicht die Utopie Wirklichkeit geworden ist. Die Forderung Dantons, die Revolution müsse bald in eine Republik münden, macht ihn in den Augen Robespierres zum Gegner der Sache, ihn, dem selbst reichlich Aristokratenblut an den Händen klebt. Per Scheinprozess werden Danton und seine Gefährten der Guillotine überantwortet.

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Die tragische Spannung in Büchners Stück entspinnt sich zwischen der resignierten Einsicht (Dantons), dass Verblendung, Mord und Gewalt unaufheblich ›in uns‹ stecken, dass der heilige Freiheitskampf gegen die Unterdrückung durch das Königtum nur einer von vielen Funken ist, an denen sich dieser Brand im Laufe der Menschheitsgeschichte entzündet hat, nur eine Reinkarnation des Molochs ist, dem Kinder geopfert werden einerseits, und andererseits der Tatsache, dass hier dennoch Menschen aus Fleisch und Blut sterben müssen: Danton, Legendre (Thomas Lettow), Camille (Christoph Franken), Hérault-Séchelles (Max Mayer), Lacroix (Johannes Nussbaum), Philippeau (Cathrin Störmer),  Julie (Nicola Kirsch), Lucile (Liliane Amuat), die am Leben und aneinander hängen, deren einzelne Tode eben nicht durch schicksalhafte Notwendigkeit, sondern durch menschliche Schuld und Verantwortung bedingt waren. In Büchners Text verdichtet sich diese Spannung in der Person Dantons, der sich von Beginn an nach der Ruhe des Grabes sehnt und die Vergeblichkeit dieser Revolution und aller Revolutionen einsieht, und doch bis fast zuletzt nicht ganz an die Unvermeidlichkeit des Untergangs glauben will, sich am Ende doch noch gegen sein Schicksal aufbäumt, der auch eine andere Erdverbundenheit kennt als die des Grabs. Von Manteuffels Interpretation des Danton ist bemüht, die Sichtweise, in der Danton als hellsichtig-depressiver Prophet des eigenen Untergangs und der ewigen Vergeblichkeit erscheint, abzuschirmen. Sein Danton ist ein abgehalfterter Agitator a. D., gelähmt von den eigenen Dämonen, dem Alkohol, der die drohende Gefahr nicht ernst nehmen will, sich aber darin gefällt, mit gebleckten Zähnen Sprüche in grellem Schwarz zu speien. Damit eckt er jedoch manches Mal an Büchners Text an, die Worte stehen in ihrer Brutalität gegen jeden vernünftigen Versuch auf, sie nicht ganz so ernst zu nehmen, wie sie es verlangen. Diese Tendenz, immer wieder zwinkernde Augen in das Sterben des Danton einzuschmuggeln, ist allgemein ein Konzept, welches nicht recht aufgehen will. Es stellt zwar eine Variation auf das Thema der ewigen Wiederkehr dar, jedoch um den Preis, dass das, was das verzweifelt Himmelschreiende dieser Wiederkehr ausmacht, die dreckige Tragik der Einzelschicksale, auf der Strecke bleibt.

Gelungener drückt sich dieses Thema im Bühnenbild (Thilo Reuter) und den Kostümen (Jana Findeklee, Joki Tewes) aus: Die Französische Revolution erscheint eingebettet zwischen Sowjet-Ästhetik und Andeutungen des Frühmenschentums, welches ebenso bluthungrige Götter gehabt haben mag wie die Revolutionen der Moderne. In der Mitte des Konvents, des Schauplatzes der Schauprozesse: Die Maschinerie; ein mechanischer Arm, der in ruckartigen, ungelenken Bewegungen Blut verstreicht. Das gierige Schnappen runzliger Finger, die noch im Angesicht der Vergeblichkeit niemandem das Leben gönnen, der infantil-despotisch aufgerissene Rachen des Moloch.

© Sandra Then

Doch in dieser Inszenierung tritt derselbe nicht in Erscheinung wie in Fritz Langs »Metropolis«. Das Bühnengebäude, Schauprozess und Politik hinter den Kulissen, Rede und Widerrede, drehen sich umeinander, bewegt von namenlosen Leibern, immer wieder scheint eine hungrige Stimme »weiter, weiter!« zu knurren, dann geht die Logik kurz in weißes Rauschen über, die Körper werden Marionetten-gleich vorwärts geworfen, immer näher an den Eingang der Höhle, in der Goyas gieriger Saturn im Dunkeln sitzt und seine Kinder frisst – doch das sehen wir nicht. Wir sehen nur: menschliche Verblendung, menschliche Schwäche, Schuld, Korruption. Menschliche Müdigkeit und menschlichen Durst, Liebe und Alltäglichkeit. Danton und Kameraden beim letzten gemeinsamen Zähneputzen: »Das Nichts hat sich ermordet, die Schöpfung ist seine Wunde, wir sind seine Blutstropfen, die Welt ist das Grab, worin es fault.« Gelächter.

»Dantons Tod« im Residenztheater bleibt ein Reden über Dantons Tod und alles, was in ihm liegt, bleibt dem unerbittlich kritischen, aber zugleich impotenten Standpunkt des bloß Theoretischen treu und spiegelt damit die ungewöhnliche Aufführungssituation wider: Mit derartig geringen Zuschauer*innenzahlen droht das Theater selbst nurmehr die Schwundstufe eines realen Ereignisses, mehr ein Raum des Diskurses als einer des wirklichen Vollzugs zu sein; eines Diskurses, dem das Wirkliche nur im Rahmen seiner selbst, nicht aber als reale Herausforderung begegnet. Nachvollziehbar ist die eindringliche Ansprache von Resi-Intendant Andreas Beck zum Beschluss des Abends: Theater sei viel mehr als nur eine Freizeitaktivität, die man im gleichen Atemzug mit Bordellen und Schützenfesten nennen könne; es sei nicht zuletzt ein Ort der Bildung – Bildung, die eben nicht bloße Informationsübertragung, sondern ein Lebensprozess ist, etwas, das etwas mit uns macht.

Kritik: Tobias Jehle