Nukleare Narben – „Bis ans Ende ihrer Tage“ im Marstall (Kritik)

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26. April 1986 – im Kernkraftwerk Tschernobyl kommt es nach Explosionen im Reaktor 4 zur ultimativen nuklearen Katastrophe. In einem Radius von mehr als 30 km entsteht eine für Menschen gänzlich unbewohnbare Todeszone. Mehr als 300.000 Bewohner müssen evakuiert und umgesiedelt werden, die Zahl der Erkrankten und Getöteten lässt sich bis heute nicht benennen.

26. März 2011 – der atomare Ritt auf der Rasierklinge lässt, ausgelöst durch einen gewaltigen Tsunami, im japanischen Fukushima ein neues, düsteres Endzeitszenario entstehen. Die ohnehin nicht gerade harmonische Co-Existenz von Mensch und Natur erlebt einen weiteren apokalyptischen Tiefpunkt.

„Bis ans Ende ihrer Tage“ aus der Feder des aus Hong Kong stammenden Dramatikers Pat To Yan versucht nun (so gut es geht), die Folgen für die Betroffenen dieser Ur-Katastrophen sichtbar und begreifbar zu machen. Am 24. Juni 2018 feierte das Stück im Rahmen des Marstallplans 2018 des Residenztheaters Premiere.

© Konrad Fersterer

Die Geschwister Kenneth und Charmaine erfahren zunächst nur von einer nächtlichen Störung im Elektrizitätswerk. Am nächsten Morgen scheint alles wieder seinen gewohnten Gang zu gehen. Bald jedoch wird deutlich, dass es hier zu einem atomaren Super-GAU gekommen sein muss. Charmaine schildert, wie sich die Haut ihrer Mutter dunkel verfärbt, wie diese mit unzähligen anderen Kontaminierten erbrechend und Blut spuckend in ein Krankenhaus gebracht werden muss, das sich sehr schnell in ein riesiges Quarantänelager mit separater Leichenhalle verwandelt. Der unsichtbare Tod lauert im sauren Regen, im strahlenverseuchten Morast und in den vergifteten Pflanzen. Man bemerkt ihn erst, wenn es bereits zu spät ist. Während die Mutter verstirbt, gibt es für Kenneth und Charmaine ein Umsiedlungsprogramm und eine kleine finanzielle Entschädigung – eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft aber gibt es nicht. Die „neue Spezies“ aus der verbotenen Zone lehnt man überall ab, man schneidet und stigmatisiert sie. So entsteht eine vollkommen neue Art des Sterbens für die Geschwister, deren soziale Isolation die endgültige Auslöschung ihrer menschlichen Existenz bedeutet. In ihrer Verzweiflung entschließen sie sich zur Rückkehr in ihre Heimat. Die Bühne, in gleißendes, gelbes Licht getaucht und gänzlich mit einer dicken Schutzfolie überzogen, wird zum Refugium in Plastik. Inmitten des Epizentrums der Verstrahlung, dem Ausgangspunkt der Katastrophe, suchen Kenneth und Charmaine ein letztes Stück ihres alten Lebens. Und dort, ausgerechnet in der Todeszone, finden die beiden ein letztes Gefühl der Freiheit und des Glücks.

© Konrad Fersterer

Keine Frage, das Potential für ein gleichermaßen tiefgehendes und berührendes Bühnenstück ist hier mehr als vorhanden. Leider bleibt jedoch das Dargebotene dabei weit unter seinen Möglichkeiten und wirkt am Ende beinahe unfertig. So beschränkt sich die Inszenierung in weiten Teilen auf eine Art von Stand-Up-Vortrag, in welchem Pauline Fusban (Charmaine) ihre Schauspielkunst nur selten unter Beweis stellen darf und der hier stimmlose Max Gindorff (Kenneth) zu einer fast schon überflüssigen Randfigur degradiert wird. Durch die nur minimalistische Interaktion der Beiden wird zudem die Intensität in ihrer Beziehung – eigentlich ein wesentlicher Aspekt des Stückes – nur in wenigen Augenblicken spürbar.

Auch das Auserzählen der drei postnuklearen Phasen (die Alarmierung, die Umsiedlung, die Rückkehr) bleibt fragmentarisch. Die szenische Adaption beschränkt sich im Grunde einzig und allein auf den Bericht Charmaines, der die Geschehnisse und das Leiden in Worte zu fassen versucht und sich schließlich im Hamsterrad der Gedanken nur noch im Kreise dreht.

Nach nicht einmal 45 Minuten ist die Aufführung dann plötzlich viel zu schnell zu Ende. Ein bleibender Eindruck, eine Auseinandersetzung mit der Thematik des Stückes oder gar eine Form der Katharsis…davon ist im Publikum nur wenig zu spüren!

Fazit: Gerade das Theater mit seiner face-to-face-Kommunikation, seiner unmittelbaren Ansprache an das Publikum, eignet sich besonders, um derart substanzielle Themen, wie den von Menschenhand geschaffenen Wahnsinn der atomaren Bedrohung, ins kollektive Gedächtnis zu rufen und mittels eindrucksvoller Stimmungen und Bilder seinem Zuschauer vor Augen zu führen. Diese Chance nutzt „Bis ans Ende ihrer Tage“ leider überhaupt nicht. Insgesamt ein nur wenig befriedigender und zu kurzer Theaterabend.

Kritik: Hans Becker