Vor dem inneren Auge – Am Kältepol im Cuvilliéstheater

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Als sich im Februar 2018 nach einem sehr milden Winter alle über Temperaturen bis -15 Grad beschweren, hat ein Stück Premiere, bei dem man Gänsehaut bekommt – „Am Kältepol – Erzählungen aus dem Gulag“ im Cuvilliéstheater des Residenztheaters.

© Matthias Horn

Auf der Bühne sitzt an einem Schreibtische eine Schauspielerin und liest den Text vor, neben ihr ein riesiger Container, dessen Öffnung dem Zuschauer verborgen bleibt. Was sich darin abspielt, sieht man nur als Videoübertragung. Der Container ist innen vor Kälte beschlagen, so scheint es. Mit ihrem wortlosen Spiel begleiten die Lagerinsassen die Erzählungen aus dem Gulag. Die Kameraführung ist dabei essentiell. Wie in einer Dokumentation scheint sie die Häftlinge zu begleiten und erschafft dennoch die Ästhetik ausdrucksstarker Aufnahmen, die man sonst nur in hervorragenden Spielfilmen findet. Auch das Licht wird von Georgij Belaga so gekonnt eingesetzt, dass man glaubt, die „Männer“ säßen tatsächlich in einer schummrigen Hütte, unter dem blauen Himmel der sibirischen Kälte, in einer Baracke – und doch weiß man, dass alles nur Bühnenbild ist. Dass man es weiß, dafür wird gesorgt, indem ab und an die Umbauten im Container gezeigt werden, überblendet mit Textauszügen aus Warlam Schalamows Vorlage. Dieser hat seine Lagerhaft in Kolyma überlebt und später darüber berichtet.

© Matthias Horn

Viele kleine Anekdoten werden hintereinander vorgelesen, einfach vorgelesen, von den sieben Schauspielerinnen abwechselnd, im Container mit daran angelehnten Handlungen begleitet, nicht nachgespielt. Trotzdem ergreifen die Momente, wie etwa, wenn davon berichtet wird, wie ein Insasse ein aus einer Speisekammer gestohlenes Ferkel zur Hälfte aufnagt, obwohl es vollkommen und roh ist. Die Zuschauer ziehen die Luft ein als vom Schlachten eines Welpen berichtet wird, den man Sekunden zuvor noch krault und wie der ganzen Baracke beim Geruch des Fleisches das Wasser im Mund zusammenläuft. Man ist gebannt von dem Schrecken und der Grausamkeit aus dem Alltag des Lagers. Das Zeitgefühl geht abhanden. Diese Gebanntheit ist vor allem dem realistischen Stil der Schauspielerinnen geschuldet. Wüsste man es nicht besser, man müsste glauben, sie seien tatsächlich unterernährt, entkräftet, man glaubt den Schmerz in den frierenden Fingern zu spüren.

© Matthias Horn

Es ist ein brutales Stück. Dazu braucht es nicht viel: die Stimmen der Schauspielerinnen und den Container, in dem sie gefilmt werden. Das ganze Stück geht so. Die Umsetzung ist so sensibel, dass man selbst anfängt zu frieren. Auch die Kostüme von Galya Solodovnikova sehen so echt aus, als wären sie wirklich schon Jahre getragen worden. Timofej Kuljabin packt mit seiner Inszenierung den Zuschauer und lässt ihn nicht gehen. Für den Russen gehören die Gulags des Stalinismus zur kulturellen Identität. Es ist ein wenig, als hätte er das Gefühl beim Lesen eines Buches auf die Bühne gebracht. Manchmal steht dabei das geschriebene Wort im Zentrum der Aufmerksamkeit, manchmal der Klang und die meiste Zeit hängt man in Gedanken bei den Bildern, die die Bedeutung der Worte im Kopf auslösen. Kuljabin weiß genau, was er tut, er erzeugt mit der großartigen Leistung aller Schauspielrinnen einen packenden Abend der Beklemmung, die man eigentlich nur von KZ-Besuchen kennt. Elementar ist für die Umsetzung die Arbeit von David Müller, denn die von Kuljabin erdachten Szenen werden erst von ihm und seiner Live-Kamera eingefangen.

Da sitzen also die im Überfluss Lebenden einer reichen und schönen Stadt in einem Rokoko-Theatersaal und schauen sich an, wie es aussehen muss zu hungern. Denn Hunger spielt in jeder der Geschichten aus dem Gulag eine elementare Rolle und der verzweifelte, oft zum Scheitern verurteilte, Versuch ihn zu stillen. Ja, es sind schlimme Bilder und es ist furchtbar diese Inszenierung zu sehen. Das ist der beste Beweis für ein herausragendes Stück. Weil nur ein solches zum Zuschauer durchdringt und so beweist, was Theater kann!

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