Shelter – Alcest im Strom (Konzertbericht)

Während sich gefühlt die halbe Welt in praller Trachtenpracht der großen Berauschtumspflege auf der Theresienwiese zuwälzt, setzen an diesem Samstag, den 29. September einige Wenige auf Schwarz mit Bandlogo, anstatt auf Kariert mit Hirschhornknöpfen, und versammeln sich pünktlich um 20 Uhr im Strom, wo sich Alcest und Vampillia die Ehre geben.

Während sich die Vorfreude auf die Blackgaze-Experten Alcest, die schon zum dritten Mal mit ihrem Album „Kodama“ im Gepäck in München haltmachen, wohl weniger aus erwarteten Überraschungen, sondern aus erwartetem (und erwartbarem) Genuss speist, dürfte nur eine Minderheit der um 20:15 Uhr schon recht zahlreichen Anwesenden eine besonders klare Vorstellung von dem haben, was Vampillia, das obskure japanische Kollektiv, zu bieten hat.

Da die Band aus Osaka mit sechs Instrumentalisten (neben Bass, Gitarren und Schlagzeug sind auch Keyboard und Geige vorhanden) ausgestattet ist, ist es ohnehin schon eng auf der Bühne des Strom, als Sänger und Frontmann „possession mongoloid“ (so steht’s auf der Homepage der Band) nach einem ausgedehnten Geigen-Keyboard-Intro seinen Platz im Zentrum des Ganzen einnimmt: Der Hühne geriert sich wie ein bipolarer Ragnar Lothbrok, schwankt zwischen kindlicher Freude, Selbstzerstörung und Zerstörungswut, dirigiert seine Mannschaft durch deren wilden Mix aus Slowdive, Deafheaven, Mozart und Neurosis… Nein, gemütliches, kopfnickendes Sich-Treibenlassen ist hier nicht möglich, die Hauptarbeit bleibt der Kinnlade bzw. den Gesichtsmuskeln überlassen, denn nicht selten ist dieses furiose Auf und Ab zwischen Raserei und Schönklang geradezu lächerlich gut. Ragnar schreit auch mal ohne Mikrophon – und zwar gut hörbar, mit Band im Hintergrund, Gehörschutz und allem. Dazu kommt einiges an Action: Einmal wetzt der energiegebeutelte Sänger mit einer Leiter durchs Publikum, um auch mit den Menschen im hinteren Teil des schlauchartigen Clubs in Kontakt zu treten, dann wieder stürzt er sich epileptisch zuckend ins Publikum, auf dem Boden liegend singend. Und damit nicht genug: Ihr Set, das von immer begeisterteren Wellen des Applauses umspült wird, beendet Bassist „micci the mistake“, indem er von der Bühne herab in einen Eimer springt. Mit dem Kopf voraus.

Es folgen: Emsige Bewegung zum Vampillianischen Merchstand und eine recht kurze Umbauzeit, ehe Alcest ihren Auftritt mit „Kodama“ einleiten.

Ein wenig sorgt man sich doch, während in Bühnennähe Umfallen (oder jede andere Bewegung) zum Ding der Unmöglichkeit wird: Werden es die Franzosen nicht recht schwer haben, noch Eindruck zu hinterlassen nach dieser fulminanten Vorvorstellung? Während Sänger und Gitarrist Neige und seine Mannen jedoch „Kodama“ (das Album) in voller Länge durchspielen, schwinden die Zweifel: Wenn dieser Mann eines nicht kann, dann sich aus der Ruhe bringen lassen. Der Sound ist erstklassig, altgedienter Live-Gitarrist Zero steuert einen nicht endenden Wattefluss aus „Ahh“-Backing Vocals bei, während Neige ewig lächelnd die Texte singt, die wohl nur aufgrund der Sprachbarriere nicht größere Teile des jeden Song mit begeisterten Rufen des Erkennens begrüßenden Publikums mitsingen.

Somit: Es gibt wenig bis nichts Neues, viel Jubel und Armeschwenken. Klingt auf dem Papier wenig spannend, tatsächlich vervollkommnet die Band mit dieser ruhigen Sicherheit und Mühelosigkeit, der jedoch kaum etwas von Automatismus anhaftet, die Wirkung ihres Liveprogramms. Hier muss weder Authentizität bewiesen noch Schauleiden zelebriert werden. Alcest betätigen sich als Schlepper der Realitätsflucht, spinnen ein farbiges Nebelnetz, nach „Onyx“, dem letzten „Kodama“-Song, bestehend aus einem kleinen Best Of-Programm, das mit der Zugabe „Déliverance“ seinen Abschluss findet.

Gut ist es, sich einen Nachhall dieses Schögeist-Shoegaze zu bewahren, während man in mit erbrechend vollen Oktoberfest-Heimkehrern in brechend vollen U-Bahnen gen Heimat gondelt…

Setlist Alcest: Kodama / Eclosion / Je suis d’ailleurs / Untouched / Oiseaux de proie / Onyx / Souvenirs d’un autre monde / Percées de lumière / Autre temps / Là où naissent les couleurs nouvelles– Zugabe: Délivrance